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Winterabend | Dezember 2012

Thibaults Party
von Frank Atteln

Thibault wünschte sich Grippe. Er wollte Fieber haben. Meine Augen brennen, meine Stirn wird heißer, meine Glieder schmerzen, meditierte er. Nach ein paar Minuten Selbstsuggestion horchte er in sich hinein. Kraftvoll schlug sein Herz und entspannt waren seine Muskeln. Er spürte keine Anzeichen von Erkältung. Enttäuscht und schmollend drehte er sich auf den Bauch und blickte mit dem Gesicht zur Wand. Er war sehr damit beschäftigt, ein neues Mantra zu finden und hörte nicht, dass Christiane ins Zimmer kam. »Erhebe Dich und zieh Dich an, Mann«, sagte die brünette Frau und schlug ihm mit der flachen Hand auf den nackten Po, »wir müssen spätestens um sieben bei Hendrys Eissternparty sein, die ersten Gäste kommen um halb acht, mach mach.« Jacob Hendry war Thibaults rotes Tuch. Zwischen den beiden Männern herrschte seit ihrer ersten Begegnung eine Antipathie, wie sie mit Vernunft nicht zu unterdrücken ist. Hendry führte die Hendry-Brauereien und inszenierte jeden Restaurantbesuch und jede Bootsfahrt, die er unternahm, als Werbeveranstaltung für die Getränke seines Hauses. Er war ein Familienunternehmer im besten Sinne, hielt viel von kubanischen Zigarren und wenig von den amerikanischen Kuba-Gesetzen und spendete einen erheblichen Anteil des Jahresgewinns der Firma an Torontos Straßenprojekte. Die Mottoparty war ein gesellschaftliches Highlight und durfte bei der Strafe einer Versetzung in den Paria-Status nicht abgesagt werden, und natürlich war sie eine subtile Plattform für die Geschäftsleute von Toronto, über denen loyal und allgegenwärtig Hendry präsidierte. Seit Christiane die Entwicklungsabteilung der Brauerei leitete, war auch ihr Gesicht Teil des Auftretens des Familienunternehmens. Aber nicht die wenige gemeinsame Zeit, die ihm mit Christiane blieb, war der Grund für die schlechte Chemie zwischen den Männern, es war ihre gegenseitige Verachtung für ihre Lebensentwürfe. Thibault programmierte freiberuflich eine wenig verkaufte Spielserie mit dem Titel »Der Wattstrumpf und seine wilden Strompiraten«. Jacob Hendry hielt ihn für einen Tagedieb, der mit seiner bizarren Phantasie immer wieder neurotische Sonderlinge zu Preisverleihungen an sein trauriges Werk verleitete anstatt einen massentauglichen Bestseller zu schaffen, von dem er leben könnte, und Thibault hielt Hendry für eine fette Laus im Pelz der Ökologie, die gerne Hof hielt, mit der wohlgeratenen Familie prahlte und sich mit fein dosierten Brosamengaben einen Staat von schamlosen Speichelleckern hielt. Seit Christiane in den Hendry-Kosmos vorgestoßen war, fühlte auch Thibault sich daran gekettet. Wie sollte er ihr beibringen, dass er sich nicht nur wünschte sondern erfüllt sehen wollte, nicht mehr ihr Begleiter auf Firmenveranstaltungen zu sein? Sie würden viel reden müssen. Er stemmte sich hoch und sah sie an. »Eissternparty«, grunzte er, aber es war der falsche Ansatz. Sie blieb kalt. Er legte sich auf den Rücken und sagte leise: »Komm her, mein Schatz. Der kleine Bambus muss gegen die kalte Witterung gestärkt werden, mach uns doch noch mal die Pflanzenstreichelnummer.« Er begleitete seine Worte mit eindeutigen Körpergesten und Christiane lachte, die Augen leicht zusammengekniffen. Sie pflückte sein Kissen aus der Luft und warf es ihm zurück aufs Bett. Mit den Worten »Rasier Dich und nimm ein anständiges Hemd« verlies sie das Zimmer. Beide schienen zu wissen, dass sein Versuch, Widerstand zu demonstrieren, nur den Grundstein legte für eine kleine moralische Erpressung, die ihm eine größere Entschädigung als verdient für die bevorstehende Erduldung der Gesellschaft des Mr. Hendry einbringen sollte. Er verließ das Bett und übte die Körperhaltung eines Inquisitionsopfers, das sich in sein furchtbares Schicksal fügt, die Welt aber mit seinen anklagenden Blicken in ihrem Gewissen treffen will. Sein Bild im Schlafzimmerspiegel gefiel ihm, und er probierte noch große, traurige Augen, einen verschlagenen Blick und einen Hustenanfall mit dem Herauswürgen eines sperrigen Fremdkörpers. Danach spielte er ein wenig das Spiel »vergifteter Smalltalk«, während er sich anzog. Er blickte aus dem Fenster. Vom See war Nebel aufgezogen, kleine Tropfen bildeten sich auf der Scheibe und man sah kaum die Straßenbeleuchtung. Er langweilte sich und ging zur Badezimmertür. »Liebling, soll ich mir eine Hitlerfrisur machen? Die Dahmstedts werden begeistert saufen, das ist doch gut fürs Geschäft!« rief er und lauschte. Christiane antwortete nicht. Sie blickte sehr zufrieden in den Spiegel.

* * *

Wie ein kostbares, auf schwarzblauen Samt gebettetes Kleinod aus dem mächtigen Schatzkästlein der prachtvollen persischen Prinzessin Parastou, funkelnd und farbensprühend, erscheint die Stadt Toronto dem, der sich ihr bei Nacht über den See nähert. Die Nacht - der Diebe ehrbare Conçièrge ist sie und Mantel aller Liebenden, und Habsucht, Kunst und Leidenschaft rufen sie an, sobald es delikat wird. Ausgewogen sollte sie sich ihre Herrschaft mit dem Tageslicht teilen, um ersehnte Abwechslung zu sein und in allen Nuancen gekostet zu werden. Der sanfte Wind in Persiens Gärten, der nach der Tageshitze geheimnisvoll murmelnd die Kronen der Aprikosenbäume durchstreift und in einer uralten, halb vergessenen Sprache zärtliche Worte über die Haut haucht - . Doch jede Gabe der Natur schmeckt fade, wenn sie pur dargereicht wird. Und so pflegt man in Kanada, wo ein Wintertag kaum drei Stunden Sonne kennt, meist ein nüchternes Verhältnis zur Dunkelheit. Aber Christiane fühlte sich wunderbar. Das milde Schneeleuchten, die Brücken mit ihren vielfarbigen Lichtkonzepten, die Reflektionen der nassen Straße und die Aussicht, durch die gemeinsamen Auftritte mit den Hendrys so viel Statur zu gewinnen, dass sie in ein oder zwei Jahren vorteilhaft die Stellung wechseln könnte, machte ihr Lust, sich wie ein Teenager aus dem Fenster zu hängen und das erregende Stroboskop aus Lichtpulsen und kalten Tropfen auf der Haut zu suchen. Thibault ärgerte die Hochstimmung seiner Frau. Er liebte Christiane mit innigstem und zärtlichstem Ernst, doch eifersüchtig hasste er den Grund ihrer überbordend guten Laune und lag mit sich selbst im Clinch, ob er versuchen sollte, sie mit kleinen Gemeinheiten zu kitzeln. Als sie schließlich zum Gelände der Hendrys kamen und die lange Auffahrt zur Villa hinauffuhren, fühlte er sich mürbe, aber er hatte der Versuchung standgehalten.

* * *

»Der flamboyante beau de la cité in meinem Haus! Na, wie geht's dem Lederstrumpf?« rief Hendry höhnisch und klatschte in die Hände. »Was kann schöner sein als es seinen Freunden gemütlich zu machen?« zitierte Thibault den Werbespruch der Brauerei. Hendrys Stimme glitt vor Bosheit in ein dunkles Vibrato: »Ja gebildet ist die Nachwuchsintelligenz! Ich verehre Sie, bitte fühlen Sie sich so willkommen wie ein geschätzter Gast.« Hendrys Augen leuchteten, und das Feuer wurde noch stärker, als Thibault ihm auswich und weiterging, um Mrs. Hendry zu begrüßen. Christiane ergriff Hendrys Hand und zwang damit seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie schlug vor, noch einmal die Choreographie des Abends durchzugehen, und im Nu waren beide in einer Diskussion über Details versunken. Thibault küsste Mrs. Hendry die Hand. Charlotte Hendry war eine handfeste Frau in den allerbesten Jahren und gesegnet mit einer ansehnlichen Beleibtheit. »Gnädige Frau,« sagte er, »im Rosy's Club feiert man seine Seitensprünge mit Champagner. Sie sind nicht nur eine sehr schöne Frau sondern auch verteufelt klug, immer besorgen Sie ihrem Mann diese strengen Arbeitswütigen,« - dabei nickte er mit dem Kopf in Richtung Christiane, und flüsterte dann verführerisch in ihr Ohr - »wie wäre es, wenn wir ein paar Stunden verschwinden und das Leben genießen? Überlegen Sie doch nur, einmal kein Hendry-Bier!« Mrs. Hendry schlug ihn mit dem Abendtäschchen. »Mit Ihnen amüsiert man sich königlich, Thibault, Sie sind ein schlimmer Junge und mein kurzweiliger Anker. Glauben Sie mir, nur mein Alter rettet mich vor Ihnen. - A propos, bitte, retten Sie mich doch nachher vor den Dahmstedts, so wie letztes Mal, ja?« Thibault lächelte. »Man lobt den Koch? Das höre ich gern. Aber jetzt beantworten Sie mir doch eine Frage. Wie wichtig sind Ihre Geschäftsverbindungen zu diesen Hassbeuteln?« Mrs. Hendry fasste ihn am Unterarm. »Thibault.- Mein Vater hat sich 45 aufgehängt, als er hörte, dass der Sohn des Mannes, dessen Laden er übernommen hatte, das KZ überlebt hat. Meine Mutter hat es dann zu schwer gehabt. Sie hat mich zu ihrem Cousin nach Kanada geschickt und sich auch das Leben genommen. Ich war gerade drei Jahre alt damals. - Mir hat bisher die Kraft gefehlt, meinen Mann öffentlich zu brüskieren. Aber nun sind Sie ein Gesicht unseres Unternehmens. Mit Ihrem Witz, Ihrer Geschmeidigkeit und Ihrer Schärfe lässt sich eine andere Politik glaubhaft machen. Sie gefallen mir sehr. Kommen Sie ganz an Bord, Thibault!« Im Bruchteil eines Wimpernschlags fiel die Spannung in seiner Brust von ihm ab. Er fühlte sich wie ein junger Gott, war hellwach, und seine Gliedmaßen bewegten sich ohne Kraftanstrengung. Energiegeladen umfasste er Mrs. Hendry in Taillenhöhe: »Charlotte, heute dachte ich, ich dürfte keine Kinder haben oder der Weltuntergang wäre nah, so dass ich die Sünden meiner Väter nicht mehr an die nächste Generation vererben kann und Gott sie mich jetzt büßen lässt. Aber es war nur die Hiobsprobe, die qualvolle Verzögerung vor einer wunderbaren Zeit! Ich verspreche Ihnen feierlich: Das ekelhafte Reichsgedächtnisgeschmeiß wird gleich seine letzte Party feiern. Ma'am, George Patton's army strides again!« Mrs. Hendry befreite sich aus seinem Griff. Für eine kurze Weile drückte sie seinen Arm. Er sah hinaus, hinunter auf die Auffahrt, auf die unentwegt Schnee fiel. Der Nebel war verschwunden.

Letzte Aktualisierung: 22.12.2012 - 15.34 Uhr
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