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Winterabend | Dezember 2012

Sankt Nikolaus und die Lobbyisten
von Karin Hübener

"Verdammt!", fluchte Knecht Ruprecht.
"Vermaledeit", sagte Sankt Nikolaus.
Beide Männer standen bis zu den Stiefelschäften im Schnee, um den geborstenen Schlittenkufen zu begutachteten.
"Ich dachte, in unserer himmlischen Immunität seien Fahrzeug, Rentiere und Gepäck mit inbegriffen." Knecht Ruprecht klang entschieden sauer.
Sankt Nikolaus reagierte gelassen: "Wahrscheinlich ist der Juniorherr zurück. Der Kufenbruch wird eine Botschaft von ihm sein."
Seit sechzig Jahren war der Sohn Gottes auf einem spontanen Missions-Trip im Universum unterwegs. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte er angenommen, dass er die Erde ein Weilchen sich selbst überlassen könnte. Zu seinem diesjährigen Geburtsjubiläum erwartete man ihn aber bereits wieder zurück.
"Ihr meint, der hat was gegen uns?"
"Wohl eher gegen unseren Auftrag." Sankt Nikolaus lächelte milde.
In diesem Augenblick pflügte ein Geländewagen an ihnen vorbei: dick, teuer und winterbereift. Aufgewirbelte Schneeflocken flogen ihnen um die Mützen. Fahrer und Beifahrerin der Edelkarosse würdigten den albernen Schlitten am Straßenrand mit keinem Blick.
"Banausen!"
Diesmal stimmte Sankt Nikolaus seinem Gehilfen zu. "Sie hätten wenigstens grüßen können." Er zückte sein Goldenes Buch.
"Herr und Frau Alliganz. Beide in der Versicherungsbranche. Beste Beziehungen zum Kanzleramt. Vorbereitetes Geschenk: Drastische Kürzung der Überschussbeteilung für Kunden von Lebensversicherungen."
"Gestrichen!", rief Knecht Ruprecht.
Sankt Nikolaus nickte.
Ein Quad hielt an. "Hallo, Jungs! Sollen wir euch die Pannenhilfe vorbeischicken?"
Zwei freundliche Augenpaare schauten durch die Visiere ihrer Helme.
"Besten Dank, nein. Wir kommen schon zurecht. Ist nur 'ne Kleinigkeit."
"Alles klar!" Die Männer hoben grüßend die Hand und verschwanden mit ihrem interessanten Gefährt in der Dämmerung.
"Nur 'ne Kleinigkeit!", äffte Knecht Ruprecht seinen Chef nach.
Erneut befragte Sankt Nikolaus das Goldene Buch.
"Herr und Herr Ordentlich. Streetworker und Pächter eines Szene-Cafés. Ehrliche Steuerzahler. Vorbereitetes Geschenk: Mahnspruch zur christlichen Moral in einem Rahmen aus Blattgold."
Knecht Ruprecht rülpste.
"Umtauschen!"
Sankt Nikolaus suchte Rat im Original-Wunschzettel. Die edle Sammeltasse und der Gutschein für eine Muckibude ließen ihn schmunzeln.
Ungeduldig scharrten die Rentiere mit den Hufen. Das Herumstehen gefiel ihnen nicht. Knecht Ruprecht beschimpfte sie, steckte ihnen aber ein Leckerli zu.

Im Laternenlicht näherten sich ein Mann und eine Frau. Sie zogen einen Kinderschlitten über den Gehweg. Vor ihnen hüpfte ein Junge durch den Schnee.
"Guckt mal, Hirsche!", rief das Kind.
"Es sind Rentiere." Knecht Ruprecht klang beleidigt.
Die Frau kniff die Augen zusammnen. "Ist das nicht die Feuerwehr? Alles ist so rot."
"Aber nein!" Der Mann lachte und wandte sich an Sankt Nikolaus. "Das ist ein Werbegag zur Weihnachtszeit, stimmts?"
"Ho, ho, ho, ho! Eine Werbung in eigener Sache sozusagen."
Sankt Nikolaus bemerkte Tüten auf dem Schlitten. "Kommen Sie von einer Nikolausfeier?"
"Wir waren bei der Tafel!", erklärte der Junge ungeniert. "Da gab es heute Plätzchen. Und Schokolade auch."
Den Eltern war die Situation peinlich. Das spürte der heilige Mann. Wahrscheinlich handelte es sich bei der Tafel um eine Art Armenspeisung. Komisch, Sankt Peter behauptete doch seit Jahren, es gäbe auf der Erde keine Armut mehr. Der Sache wollte Sankt Nikolaus nachgehen.
"Hätten Sie für unsere Rentiere vielleicht ein wenig Wasser?"
Die Leute schauten verdutzt. Dann lachten sie.
"Unser Junge wird seinen Spaß daran haben. Es ist nicht mehr weit. Wir müssen nur rechts abbiegen."
Knecht Ruprecht rollte empört mit den Augen. 'Rechts abbiegen' stand nicht auf ihrer Liste. Und sie hatten noch viel zu tun in dieser Nacht. Doch bevor er widersprechen konnte, erzitterte der Schlitten und ein heller Gongton erklang. Verblüfft betrachtete Knecht Ruprecht die Kufen. Sie waren so unversehrt, wie seit 1600 Jahren.
Sankt Nikolaus blinzelte seinem Gehilfen zu. Wir sind auf dem richtigen Weg, sollte das heißen.
Die Rentiere passten sich der Laufgeschwindigkeit der Menschen an. Ab und zu wagte es der Junge, den Tieren kurz über das Fell zu streichen. Vom Kutschbock aus fiel Sankt Nikolaus auf, dass die Frau sich von ihrem Mann leiten ließ. Sie hatte Sehprobleme.
"Haben Sie Ihre Bille vergessen?"
"Schön wäre es. Im Augenblick ist uns eine Brille zu teuer."
"Zahlt denn die Kasse nichts dazu?"
Statt einer Antwort machte der Mann mit der Hand eine abweisende Bewegung.
Das war ja allerhand, dachte Sankt Nikolaus. Es herrschte also doch noch Mangel auf Erden. Unauffällig schielte er in sein Goldenes Buch. Da fand er diese Familie nicht. Er fand überhaupt niemanden aus dieser Straße. Irgendjemand von der himmlischen Verwaltung hatte geschlampt.

Vor dem Wohnhaus der Familie zerrte Knecht Ruprecht einen Futtereimer vom Schlitten. Mürrisch schaute er sich um. Eine einfache Gegend war dies, so ganz nach dem Geschmack des Juniorherrn.
"Darf ich solange auf die Rentiere aufpassen?", fragte der Junge.
Durch ein schlichtes Treppenhaus ging es bis in den vierten Stock hinauf. Sankt Nikolaus trug den Kinderschlitten und der Mann die Tüten. Schon ab der zweiten Etage hörten sie den Fernseher. Er war extrem laut gestellt.
"Meine Mutter ist schwerhörig", erklärte die Frau.
Diesmal ersparte sich Sankt Nikolaus die Frage nach dem Hörgerät.
Die Oma im Rollstuhl sah sich gerade eine Tiersendung an. Ãœber ihren Knien lag eine ausgefranste Wolldecke. Die Heizung war heruntergedreht. Erst als der Mann den Ton leiser stellte, bemerkte die Alte den Besuch.
"Ah, Sankt Nikolaus und Knecht Ruprecht!" Strahlend reichte sie den Männern ihre kalte Faltenhand. "Sieht man euch auch mal wieder, ihr Gauner?"
Knecht Ruprecht antwortete mit einem Grunzlaut. Die Situation behagte ihm nicht. Rasch verschwand er mit dem Futtereimer im Badezimmer.
Sankt Nikolaus fühlte sich dagegen so frisch, wie seit 60 Jahren nicht mehr. Die Hand der Seniorin hatte ihm Nachrichten übermittelt. So wusste er jetzt, dass sie nachts vor Schmerzen nicht schlafen konnte, dass es einen Engpass bei der Lieferung bestimmter Krebsmittel gab, dass ihre Tochter einem 1,50 Euro Job in der örtlichen Schulkantine nachging und dass der Schwiegersohn als Leiharbeiter für einen Hungerlohn schuften musste.
"Sie haben recht, gnädige Frau. Wir sind unter die Gauner geraten. Aber das ändern wir jetzt."
Er drückte ihr noch einmal die Hand. Die alte Dame schaute ihm verschmitzt in die Augen. Dann wandte sie sich wieder ihrer Tiersendung zu.
"Ihr Kollege ist bereits gegangen. Falls das Wasser nicht reichen sollte, können Sie es ja unserem Jungen sagen."
Unauffällig ließ Sankt Nikolaus eine Tüte mit Geschenken hinter den Vorhang gleiten, der an der Wohnungstür als Windfang diente. Dann bedankte er sich.
"Sie haben uns einen großen Dienst erwiesen. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie noch eine recht schöne Adventszeit."

Im Treppenhaus hielt er bei jeder Tür kurz inne, lauschte und stellte dann ein passendes Päckchen davor. Erwartungsvoll aufgestellte Stiefel gab es nicht. Kein Wunder. Wer sollte hier noch an ihn glauben? Von Etage zu Etage stieg sein Ärger auf Sankt Peter und dessen Ratgeber. Was hatten die seit Jahren für Märchen verbreitet? Armut gäbe es nicht mehr auf der Erde, weil Banken, Konzerne, Interessensgemeinschaften und Gesetzgeber sozial verantwortlich zusammenarbeiteten. Das war seine Lieblingsbehauptung. Ob er an sie glaubte? Oder hatte jemand den alten Herrn um den Finger gewickelt? Vielleicht mit irdischen Gaben? Auffällig war, dass er sich vor Jahren einen Weinkeller neben dem Himmelstor eingerichtet hatte. Ausgezeichnete Tröpfchen lagerten dort. Dies wusste Sankt Nikolaus aus Erfahrung. Denn Sankt Peter war großzügig mit seinen Weinen. Das musste man ihm lassen.
Selbst der Herr hatte schon davon gekostet, wenn er mit seinem Torwächter eine Runde Schach spielte. Aber meistens ging der Schöpfer seinem Hobby im naturwissenschaftlichen Labor nach und überließ den Umgang mit der Menschheit seinem Sohn.

Vor dem Haus kümmerten sich Knecht Ruprecht und der Junge einträchtig um die Rentiere.
"Der braucht dringend eine neue Badehose", raunte der Schwarze Geselle seinem Chef ins Ohr. "Außerdem wünscht er sich eine Jahreskarte für das Hallenbad."
Sankt Nikolaus zwinkerte seinem Gehilfen zu. "Gute Arbeit, Ihr beiden! Nun geh dich aber aufwärmen, Junge!" Während er dem überraschten Kind einen Schokoladen-Nikolaus in die Hand drückte, schob er ihm heimlich das Wunschpäckchen in die Jackentasche.

"Wir sollten uns aufteilen", schlug Sankt Nikolaus vor.
Knecht Ruprecht nickte. Er hatte bereits sein Lieblingsrentier Rudolf ausgeschirrt. Nun schnappte er noch seinen dunklen Sack.
"Da kommen all die Bonis und überzogenen Gehälter hinein", erklärte er. "Und die Energiekosten-Rabatte für Großunternehmen."
"Vergiss nicht die systematischen Fehlentscheidungen des Medizinischen Dienstes!"
"Keine Sorge. Mit besonderem Vergnügen werde ich aber die Zockerprogramme für Börsenspekulanten einsacken."
"Gut, alter Freund. Das wird die Lebenshaltungskosten für die kleinen Leute senken." Sankt Nikolaus schüttelte den Kopf. "Nicht zu fassen! Sie einfach aus dem Goldenen Buch zu streichen. Je nun. Ab heute werde ich mich wieder um sie kümmern."

Inzwischen war es finstere Nacht geworden. Kaum hatten sich die beiden Männer einige Meter voneinander entfernt, als sich über den Himmel ein lautloses Feuerwerk ergoss. Sankt Nikolaus runzelte die Stirn.
"Nanu, ist doch gerade kein Termin für Meteoritenschwärme."
"Oben wird wohl endlich jemand die Bude aufräumen", rief Knecht Ruprecht schadenfroh.
"Ja, so wie damals, als er die Händler aus dem Tempel warf", entgegnete Sankt Nikolaus voller Andacht.

Letzte Aktualisierung: 12.12.2012 - 21.11 Uhr
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