Diese Seite jetzt drucken!

Winterabend | Dezember 2012

Leben
von Angie Pfeiffer

„Manchmal gehst du mir wirklich auf die Nerven, mein Schatz!“
Natürlich spreche ich diesen Satz nicht laut aus, aber ich denke ihn zum wiederholten Mal, während ich versuche, mich auf die Fahrbahn zu konzentrieren. Es ist ein düsterer Winterabend und es regnet in Strömen.
„Wenigstens schneit es nicht auch noch.“ Ich versuche ein vernünftiges Gespräch in Gang zu bringen, doch das scheint nicht möglich zu sein. Du grinst dümmlich und betätigst die Hupe.
„Das wäre lustig, dann könnten wir mit einem Schlitten nach Hause rutschen“, ist dein Kommentar.
Im Prinzip macht es mir nichts aus, dich nach der Weihnachtsfeier mit den Kumpels abzuholen, aber statt weinselig vor dich hinzudösen und mich fahren zu lassen, machst du Blödsinn. Textest mich zu, fummelst an der Gangschaltung herum, hupst ohne Grund.
„Ich hasse das! Wirklich!“
„Was hasst du?“
Dieses Mal habe ich doch laut gesprochen.
Ich komme nicht mehr dazu dir zu antworten, denn plötzlich steht ein Mann am Straßenrand. Er ist groß und dürr und ganz bleich. Von ihm geht eine eigenartige Bedrohung aus. Obwohl ich ihn nur einen kurzen Augenblick im Scheinwerferlicht sehe weiß ich, dass er uns nicht erwischen darf, denn dann geschieht etwas Furchtbares. Also gebe ich Gas, versuche so schnell wie möglich hier wegzukommen. Doch eigentlich ist mir jetzt schon klar, dass die Flucht sinnlos ist. Er wird uns überall finden. Du hast wohl das Gleiche gespürt, denn du bist plötzlich ernst und ziemlich blass um die Nase. So fahren wir eine ganze Weile weiter, schweigend. Fast wäre es mir lieber, du würdest herumkaspern.

Schließlich kommen wir in eine Stadt. Merkwürdig, vorhin war es noch ganz dunkel und kalt, jetzt ist heller Tag. Die Sonne scheint viel zu warm für einen Wintertag und alle Leute laufen geschäftig hin und her.
„Schau mal, da vorne ist Markt, den sehen wir uns an.“ Mit dem hellen Sonnenschein sind die dunklen Gedanken verschwunden und wir steigen aus. Du nimmst meine Hand, wie so oft, und wir schlendern die Straße hinunter.
Plötzlich läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich kann ihn spüren, noch bevor ich mich umgedreht habe. Richtig, da steht das bleiche Klappergestell, direkt hinter uns. Wortlos starrt er uns an und ich werde trotz des Grauens, das mich erfasst wütend. Verdammt, kann der komische Typ uns nicht in Ruhe lassen! Was will der von uns?
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Keulenschlag, denn plötzlich weiß ich, was er will. Mich! Er ist der Tod, der mich holen will. Mit dieser Erkenntnis verschwinden meine Angst und auch die Wut. Resignation macht sich breit, denn ich bin sicher, dass er mich nicht davonkommen lässt. So nähere ich mich ihm, reiche ihm meine Hand. Er schüttelt stumm den Kopf und schaut zu dir. Entsetzt versuche ich ihm den Weg zu versperren. Das ist nicht richtig. Er soll mich mitnehmen. Doch er lässt sich nicht beirren, geht zu dir, nimmt deine Hand. Du schaust ihm wie in Trance ins Gesicht. Wirst blasser, bis ich dich nicht mehr sehen kann.
Die Trauer ist unbeschreiblich. Ich bin ganz lebensleer, habe mich noch nie so verlassen gefühlt. Um mich herum wuseln die Menschen hin und her, haben scheinbar gar nichts bemerkt. Merken auch nicht, dass ich in die Knie gehe, mich ganz klein mache und weine.

„Ist ja gut, du hast einen schlechten Traum, ich bin ja hier.“ Du nimmst mich in den Arm, tröstest mich, denn ich weine immer noch, komme erst langsam wieder an die Oberfläche.
„Ja, du bist hier, bei mir!“ Ich lege meine Arme ganz fest um dich, spüre dich intensiv, Körper an Körper. Dein Herz klopft an meiner Brust, deine Arme umfangen mich. Ich schaue zum Fenster, sehe leise fallende Schneeflocken, spüre Winterstille, Frieden.
Ich spüre dich leben und bin unsagbar glücklich.

Letzte Aktualisierung: 01.12.2012 - 16.04 Uhr
Dieser Text enthält 3784 Zeichen.


www.schreib-lust.de