Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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Nullpunkt | Januar 2013
Ende
von Anne Zeisig

Meine Frau Marie saß neben mir.
“Glio Blastom, Grad Vier nach WHO.” Der Halbgott in Weiß zwirbelte an seinem Bart und seine Augen hatten sich regungslos an meinen Blick geheftet. Er rieb sich nervös die HĂ€nde.
“Sehe ich aus wie ein Lateiner?”, habe ich gefragt. “Bis vor einem Jahr war ich vor Kohle, da kommt man mit dem auslĂ€ndischen Gequatsche nicht weit. Unter Tage war es wichtig fĂŒrs Überleben, wenn das Team sich einfach und klar verstĂ€ndigte.”
Er, der mein Sohn hĂ€tte sein können, rĂŒckte seine schwarze, ĂŒbergroße Hornbrille zurecht und nickte.
“Sie haben einen Hirntumor in NĂ€he des Sehzentrums. Es ist leider der schwerste Grad”, erklĂ€rte der Arzt und redete pausenlos weiter. Operation, Chemo, LebensverlĂ€ngerung, LebensqualitĂ€t, Palliativversorgung. “Sie mĂŒssen kĂ€mpfen.”
Seine Stimme drang aus der Ferne zu mir.
Es kam mir unwirklich vor, dass er mich meinen könnte.
Ich schwebte wie ein Astronaut.
Unter mir gab es keinen Boden und ĂŒber mir keinen Himmel
Eis setzte sich an meinen Zehen fest und gefror bis ĂŒber meine Knie, um auch noch den Rest meines Körpers erstarren zu lassen. Mir war sooooo kalt. Ich zitterte. Marie legte ihre Strickjacke um meine Schultern.
“Wir sehen uns also ĂŒbermorgen.” Der Doktor stand auf.
“Und warum sehen wir uns?”
“Übermorgen ist dein OP-Termin”, erklĂ€rte Marie und drĂŒckte meine Hand. “Alles wird gut.”
“Alles wird gut?”
Ich fasste gerade noch den Zipfel des Kittels, bevor der Arzt durch die TĂŒr gehen konnte. “Stop! Es muss sich hier um eine Verwechslung handeln!”
Er wich zurĂŒck.
“Man kennt das doch mit diesen Computerprogrammen. Eine falsche VerknĂŒpfung, ein Vertipper, und schon lĂ€uft alles schief.” Ich lachte. Ich lachte schrill? “Irren ist menschlich!”
Der Doc schĂŒttelte den Kopf. “Wir haben mehrere Aufnahmen gemacht. Die Diagnose ist klar. Sie sind bei uns in guten HĂ€nden. Erst die Operation und dann die Chemo.”
“Und wenn ‘s nichts nutzt?”
“Dann sehen wir weiter.”
“Wir?”
“Meine Kollegen und ich. Mit Ihnen gemeinsam.”
Ich wollte es genau wissen. “Wie lange können wir weitersehen? Wann werde ich mir die Radieschen von unten ansehen?”
Er nestele an seinem Pieper herum. “Zeitprognosen sind immer schwierig.”
Plötzlich tat mir der junge Mann leid. So wie die Auszubildenden, wenn sie das erste Mal unten im Dreck und Staub vor Kohle waren. Ja, das war was anderes als die Lehrwerkstatt.
Ich klopfte ihm auf die Schulter. “Ist schon gut, danke.”
Meine Frau fĂŒhrte mich hinaus, ich spĂŒrte ihre nasskalte Hand in der meinen und gegen den SchĂŒttelfrost konnte ich nicht ankĂ€mpfen.
“Wenn ich schon nicht gegen einen harmlosen SchĂŒttelfrost ankĂ€mpfen kann, wie soll ich gegen diesen ZellknĂ€uel in meinem Kopf ankĂ€mpfen?”
Marie stupste mich in die Seite. “Du warst immer ein Malocher, ein ganzer Kerl, eine KĂ€mpfernatur.”

* * *
Ich putzte den Flur zum zweiten Mal und sortierte die Schubladen zum zehnten Mal und ich wienerte meine Schuhe ungezĂ€hlte Male hintereinander und ich schrubbte den Balkon blitzeblank und ich saugte die Teppiche kahl und rasierte meinen Kopf ratzekahl und tat das alles, um meine Angst nicht zu spĂŒren.
Ich rauchte heimlich auf dem Balkon eine Zigarette, damit Marie es nicht bemerkte.
“Setz dich doch mal hin und lass uns reden”, hatte sie gefordert, “deine stĂ€ndige Herumwuselei macht mich verrĂŒckt.”
Ich hatte keine Zeit fĂŒr sinnloses Blablabla.
Im Garten war auch noch so viel zu tun.
Ich mĂ€hte den Rasen und zog das Unkraut pingelig einzeln mit der Pinzette heraus, ich sĂ€te KrĂ€uter und pflanzte Blumenzwiebeln fĂŒrs nĂ€chste FrĂŒhjahr, ich strich die Laube weiß und die BlendlĂ€den grĂŒn und die alte Bank zerschlug ich vor Wut mit der Axt.
Da habe ich jede Faser meines Körpers gespĂŒrt.
Jawohl! Ich lebte!
NĂ€chstes FrĂŒhjahr werde ich mich an den BlĂŒten erfreuen, meine Nase in die Rosen stecken und ihren Duft tief einsaugen.
Die neuen Tapeten fĂŒrs Wohnzimmer liegen auch bereit.
Marie lÀchelte, aber sie ist eine schlechte Schauspielerin. Ich sah, wenn ihr LÀcheln gequÀlt wirkte. Ich hörte, wenn sie im Bad heimlich weinte.
Abermals ergriff ich die Axt und schlug auch noch den alten Gartentisch kurz und klein.
“Du wolltest doch immer so gerne im Garten eine moderne Sitzgruppe haben”, verkĂŒndete ich meiner Frau, “dann lass uns sofort morgen eine kaufen.”

* * *

Nach achtzehn Monaten bin ich nun austherapiert. Heißt auf Deutsch, dass die Mediziner den Kampf verloren und die wuchernden Zellen gewonnen haben.
Ihr Dasein in meinem Kopf hat ihnen nicht gereicht, sie haben inzwischen auch meine Lunge beschlagnahmt.
Ich sehe alles doppelt und bin kurzatmig.
Nach drei Tagen war ich mit dem Tapezieren fertig. FrĂŒher hĂ€tte ich das an einem Tag geschafft. Marie hatte mir mit den Möbeln geholfen. Sie ist stark geworden.
Inzwischen habe ich sĂ€mtliche Formalien beim Bestatter erledigt und mir ‘ne Urne ausgesucht. Solche Vorkehrungen sollte jeder treffen. Auch ohne den Feind im Körper.
Ich will jetzt noch nicht sterben.
Aber irgendwie gibt es nie den richtigen Zeitpunkt im Leben.
Mein Garten liegt unter einer Schneedecke begraben und das Medikament gegen diese unsÀglichen Kopfschmerzen hilf gut.
Ich denke, es wird Zeit, dass ich mich mit dem Tod anfreunde.


© ANNE ZEISIG, VERSION 3

Letzte Aktualisierung: 24.01.2013 - 20.30 Uhr
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