Eigentlich ist mir zu kalt, um lange zu plaudern. Aber sie haben mich zur Haus-Chronistin gewählt und verlangen ständigen Bericht.
Ich bin Reinhilde, eine deutsche Regenbogenforelle, und Sophie will mich in Butter braten. Schon bei diesem Gedanken verstecken sich sämtliche Sympathiepunkte auf meiner Haut.
In dieser Miniatur-Arktis lenkt das Singen etwas vom Frost ab. Ich schaue in die Runde. Erwartungsvoll hängen sie an meinen Lippen. “Durchhalten, Herrschaften! Wir schaffen das! Ich spüre den Klimawandel bis in die Gräten.“ Und so bündeln wir weiterhin konzentriert unsere geistige Energie: Nächstes Ziel 16 Grad minus.
minus 16 ºC
Es war nicht einfach. Wie spricht man beispielsweise eine Pizza an? Nehmen wir Silvio. Er kommt als Pizza Diavolo aus Rom. Es dauerte eine Zeit, bis ich verstand, dass er sich für die bestbestückte Pizza weltweit hält. Ich machte auf Belle de jour, schenkte einen Augenaufschlag und wackelte mit den regenbogenfarbenen Seitenstreifen. Da fühlte er sich geschmeichelt, erst recht, seit ich ihn mit Signore Presidente anrede.
Apropos Schönheit: Jeder hat das Recht, hässlich zu sein, aber Sophie übertreibt es ein wenig. Wenn dieses fiese Schrapnell wenigstens ein gutes Herz hätte, aber sie hat an dessen Stelle nur einen Block aus ewigem Eis. Da! Hören Sie:
„Boo-doo! Sofort in die Ecke!“
Bodo ist kein Hund, sondern Sophies Mann.
Die Information stammt von Louis, einem Tintenfisch aus dem Atlantik. Auf seiner Verpackung steht 'D'Amico Seepolyp'. Kennt Gott und die Welt. Natürlich auch Bodo und Sophie. Sein weiterer Vorteil: die prompte Simultanübersetzung aller Äußerungen in der Tiefkühltruhe, soweit das Vokabular nicht ohnehin geläufig ist. Louis weilt schon lange hier, seine Berichte über Bodos Martyrium erfüllen uns stets mit neuem Entsetzen. Die kaltherzige Sophie herrscht wie eine Despotin, jede vorstellbare Grausamkeit wird von ihr mühelos überboten. Manchmal senden wir tröstend geballte positive Energie aus der Truhe hinaus zu Bodo. Wer weiß, ob er ohne diese Stimulanz nicht schon in der Klapse gelandet wäre. Im Moment hat er sich zitternd in die Ecke gestellt, wie Louis dank hellseherischer Fähigkeiten zu berichten weiß.
minus 14 ºC
Wir schauen uns hoffnungsvoll an. Unser Warmwerden-Mantra, nur von Silvio boykottiert, beginnt zu wirken. Mit null Grad den Nullpunkt zu erreichen oder gar zu überschreiten, ist nicht mehr nur eine Vision! Louis hat erklärt, dass wir so eine Chance haben, nicht von Sophie gebraten zu werden. Im fluoreszierenden Schimmer der Leuchtsternchen auf einigen Verpackungen ist zu erkennen, wie alle Mitbewohner zusammenrücken und sich glücklich zunicken. Sophie pfeffert eine mittelgroße Schachtel in unsere kalte Herberge und stellt den Ton auf Sirene:
„Boo-doo! Herkommen!“
„Ja, Sophie?“
„Wieso von Edeka?!“
„Bei Aldi hatten sie nichts, Sophie. Entschuldigung.“
„Habe ich nicht hinreichend erklärt: Nichts-bei-E-de-ka!?“
„Ja, Sophie.“
„Und du wagst es, in diesem teuren Laden ...“
„Ich dachte ...“
„So, der Herr denkt … Bücken!“
Es folgen deutlich hörbare Schläge. Wie Louis erklärt, benutzt der Drache hierfür ein Nudelholz.
„Hast du es jetzt kapiert?“
„...“
„Boo-doo?“
„Ja, Sophie.“
Der Neuankömmling entpuppt sich als gefüllte, gezuckerte Bliny-Speise. 'Blinys Dovgan Russische Küche' steht auf der Schachtel. Sie stellt sich als Irina vor. Da jeder Neue ein Lied darbieten muss, singt sie mit rauchigem Timbre zur Erinnerung an eine ferne Stadt: „Wo Orakeln gleich Zwiebeltürme stehen ...“ (Louis hat sofort die Übersetzung geliefert). Eine hitverdächtige Melodie. Als der letzte Ton verklungen ist, begrüßt Louis sie in aller Namen („Priwjeztwuju wass“) und erntet ein zuckersüßes „Ja chatschju pasnakomizasswami“, was bedeutet: „Ich möchte euch kennenlernen.“ Als Erster rückt ihr Silvio auf die Pelle: „Il Presidente“, zeigt er auf sich und fügt hinzu, er sei ja nicht schwul, igitt, sondern schaue gern nach schönen Frauen – besonders, wenn sie so süß seien.
Bodo scheint im Keller eingeschlossen zu sein. Seufzend sitzt er auf unserem Dach. Endlich naht die Gattin:
„Willst du immer noch bockig sein?“
„Nein, nein, Sophie.“
„Gut, letzter Versuch. Komm nach oben!“
„Ja, Sophie, danke.“
Dann Stille. „Same procedure than ev'ry day ...?“
Wieder der Einsatz all unserer mentalen Kräfte, als Richtstrahl fokussiert auf das Thermostat, dem Symbol unserer Sehnsucht nach Wärme.
Minus 8 ºC
Jubelstürme, Übermut! Allgemeines Necken, das Einige ernst nehmen. Sonja, meine Landsmännin, zum Beispiel. Die Lampe-Premium-Hasenkeule zuckt bei den ersten Tönen von „Auf, auf zum fröhlichen Jagen“ zusammen und zittert wie Espenlaub, obwohl die Temperatur weiter steigt. Archie beruhigt:
„Well, my dear, don't worry, that's a joke“,
was Louis mit „Gut, meine Liebe, unbesorgt, das ist ein Joker“ übersetzt. Woraufhin Sonja, gleichermaßen getröstet wie ratlos, ausschnieft.
Warum lässt Sophie ihre Klauenhand derart herumschubsen? Die Frage stellen und die simple Antwort begreifen geht sozusagen Hand in Hand: Sophie besteht nur noch aus Kopf und Hand, der Rest blieb draußen. Eine Nudelholzrolle fliegt dem Kopf hinterher. Der Deckel knallt zu, Bodos Schritte entfernen sich, sein Pfeifen verklingt. Allein mit Sophies Resten: Ende einer Eisheiligen. Da brandet Beifall auf, alle singen das Toter-Hahn-Lied zu Ende:
„Il ne chante plus cocodi, cocoda ...“
Während wir schlafen, werden wir den Nullpunkt durchstoßen, so richtig auftauen und wieder unsere Körper fühlen. Bodo wird kommen, alles wird sich zum Guten wenden. Wie allabendlich folgen die Gute-Nacht-Lieder, wir schließen à la Wise Guys mit „Schlaf ein und träum vom Meer“ (für Fischstäbchen-Gert). Meine letzte Ermahnung gilt dem Hummer:
„Schluss mit Schnick-Schnack-Schnuck, Owen! Morgen ist auch noch ein Tag.“
Owen mault, hat er doch heute wieder nur verloren. Er kapiert nicht, dass man sich längst auf das eingestellt hat, was er für raffiniert hält: konsequent nur die Schere zu zeigen. Ich melde mich letztmals mit dem Gute-Nacht-Appell.
Die Arktis ist Vergangenheit. Wir fühlen uns großartig. Was die Zukunft bringt, weiß niemand, und das ist gut. Aber wir wissen, was sie NICHT bringt: Sophie. Ihre harten, eisigen Gesichtszüge haben sich in wellenförmig fließende, schmiegsame Falten gelegt, verleihen ihr einen fast sympathischen Ausdruck.
Archie, warum weinst du? Ach so: Sophies Hand hat sich mittlerweile sanft und weich auf seinen Schweinskopf gesenkt. Zerläuft dort wie Schnee in der Sonne. Oder wie Butter, in der sie uns nicht mehr braten kann. Keinen von uns. Never ever.