Honigfalter
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Nullpunkt | Januar 2013
Ganz von vorn
von Thea Derado

Dort, kurz vor der Haltestelle, das muss Sascha sein, freute sich Natascha. Der Gang, der RĂŒcken. Endlich wieder einen Bekannten unter all den gleichgĂŒltigen Fremden. Mehr als eine Woche war sie nun schon von daheim weg, nun doch einmal jemand Vertrautes! Sie legte einen Schritt zu.
Aber das Frohlocken erstarb. Abrupt hielt sie inne, ausgebremst durch die Einsicht, dass das ja absurd war. Eine unĂŒberbrĂŒckbare Grenze machte ein Wiedersehen mit Freunden unmöglich.
Der Nebel des Kummers ĂŒber diese ungewohnte, anhaltende Einsamkeit hĂŒllte wieder Nataschas GemĂŒt ein.
Keine Menschenseele kannte sie in MĂŒnchen, der Stadt, in die es sie verschlagen hatte. Zwar hatte sie diesen Schritt bewusst gewĂ€hlt, war freiwillig und mĂŒhsam aus dem Ostblock abgehauen, doch so schwer hatte sie es sich nicht vorgestellt. Sich so verlassen zu fĂŒhlen, weit weg von daheim, von ihrer Familie, von Freunden, von allem Vertrauten.

Abend fĂŒr Abend kĂ€mpft sie gegen die TrĂ€nen an. Wohl wĂ€re es befreiender, sie fließen zu lassen. Stattdessen kapselt sie sich ab, spinnt sich ein wie eine Raupe in ihren Kokon. Wird je die Zeit zum SchlĂŒpfen kommen?

In der wĂ€hrend des Krieges schwer zerstörten Stadt ist die Wohnungsnot 1958 noch spĂŒrbar. Mehrere ausgebombte Familien mĂŒssen sich eine Wohnung teilen. Dazu die vielen Vertriebenen und FlĂŒchtlinge aus den einst deutschen Gebieten. Alle suchen eine Bleibe.
Am Ende der Stadt ein Angebot. Die Wirtin, eine Kriegerwitwe, beÀugt Natascha misstrauisch, weil ihre Sprachkenntnisse mangelhaft sind.
Immer wieder wird vom Schliff der Sprache auf den Charakter des Sprechenden geschlossen.
Zögernd zeigt ihr die Ă€ltere Frau das ‚Studentenzimmer‘: eine einstige Besenkammer unter der Treppe, in die gerade ein Bett und ein Stuhl passen – zu ĂŒberhöhten Preisen.
Ohnehin zu weit weg von der Uni.

In einer Anlaufstelle in der Innenstadt hilft man Jugendlichen aus östlichen LÀndern weiter.
„In sechs Wochen ist dann das neue Studentenwohnheim bezugsfertig. Musst dich aber rasch bewerben. Hier, die Anschrift der Evangelischen Mitternachtsmission in der Heßstraße. Da kannst du bis dahin unterkommen.“

Eine Fromme Schwester in Ordenstracht weist ihr eine Schlafstelle zu - in einem Etagenbett. Noch fĂŒnf junge gestrandete MĂ€dchen teilen mit ihr das Zimmer. Es gibt zwei weitere RĂ€ume mit je acht Einquartierten.
„Um neun Uhr abends wird warmes Wasser zum Waschen zugeteilt. Seid pĂŒnktlich! Um zehn Uhr wird das Licht ausgeschaltet.“
Ab neun Uhr stehen 22 junge Frauen an drei Emaille-SchĂŒsseln Schlange und harren der kostbaren FlĂŒssigkeit, um sich vom Staub des grauen Alltags zu befreien.
Und dafĂŒr pro Nase 30 Deutsche Westmark! FĂŒr Natascha ist das viel, sehr viel. Die frommen Schwestern nehmen also 660 Mark an Miete im Monat ein, rechnet sie aus.
Oh, wenn sie selbst doch diese Menge fĂŒr ein halbes Jahr zum Leben hĂ€tte!

Jurastudentin Margit wird dem Greenhorn von der Arbeitsgemeinschaft zugeteilt. Wohlwollend nimmt sie die Neue zu einem Treffen ihrer Kommilitonen mit.
Ach, hĂ€tte sie das doch lieber sein lassen, es hĂ€tte einen demĂŒtigenden Abend erspart!
Natascha stellt sich mit ihrem Vornamen vor und redet alle mit ‚du‘ an, glaubt das sei unter Studenten in der ganzen Welt so ĂŒblich. Ha, aber nicht bei westdeutschen Jura-Studenten! Die schrauben ihre Empörung sogleich in ungeahnte Höhen.
Gleichviel ob echt oder gespielt, es verletzt.
Die FĂ€den des Kokons schnurren noch fester zusammen.

Nicht nur Juristen, auch andere Wesen vermitteln Natascha das GefĂŒhl, von einem anderen Planeten zu kommen. Die junge Frau im Bett unter ihr verdient ihr Geld mit Abonnements fĂŒr Illustrierte. Jeden Morgen legt sie sorgfĂ€ltig Kriegsbemalung auf, bevor sie sich auf ihren Kampfpfad begibt. Versuche eines GesprĂ€chs misslingen stets, weil sie einzig und allein von Filmschauspielern/innen schwĂ€rmt.
„Ach lass mal, ich habe ohnehin niemals von denen gehört.“ Natascha sagt nicht, dass die sie auch gar nicht interessieren, will sie ja nicht total verĂ€rgern.
„Waaaas, den kennst du nicht? Aber den kennt doch jeeeder!“, dröhnt es.

Nochmals braucht Natascha Margits Hilfe, da sie einen Wust von Formularen auszufĂŒllen und einzureichen hat. „Sag, Margit, du haben Beziehung zu Studentenwerk?“
„Beziehungen? Nö. Warum sollte ich?“
„Ich muss da meine Unterlagen abgeben.“
„Na, dann mach das doch. Geh einfach in die VeterinĂ€rstraße.“
„Nein, nein, so geht das nicht. Darf man nicht machen so einfach direkt. Braucht man Beziehung.“
„Eh, du bist hier nicht auf dem Balkan! Das ist eine deutsche Behörde! Da geht man hin und gibt seine Sachen ab!“ Margits Juristenseele reagiert beleidigt.
„He, he!“ Natascha schluckt ihren Ärger ĂŒber diese blöde Bemerkungen runter. Begriffsstutzig scheint Margit auch noch zu sein. Mit weit ausholenden Gesten und holprigem Deutsch belehrt Natascha sie, dass ihre verehrten deutschen Behörden auch nicht ganz koscher seien.
„Ist nicht so, wie du denkst. Geht nicht so gerade. Muss man machen Kurven und kommen von hinten, so drum herum.“ Dabei beschreibt sie mit der rechten Hand einen ganz großen Bogen. Dann, Daumen gegen Zeigefinger und Mittelfinger gedrĂŒckt, die Hand rhythmisch vorm Gesicht bewegend: „Steht explizit geschrieben. VerstĂ€hst du?! Kann man auch bei eich in Deitschland nicht machen, wie man mĂ€chte.“
„Das steht geschrieben? Wo? Zeig her!“
Natascha deutet auf das amtliche Schreiben: ‚Die Unterlagen sind beim Studentenwerk umgehend abzugeben!‘

Nach Wochen endlich der ersehnte Platz im Studentenheim! Ein Zimmer mit eigenem Waschbecken, ja sogar mit einem kleinen Balkon. Eine Kastanie reckt zum Gruß ihre Kerzen herĂŒber. Die trĂŒben GemĂŒtswolken zerfleddern unter der FrĂŒhlingssonne.
Auch die anderen, zumeist auch fremdlÀndische Studentinnen auf ihrem Stockwerk scheinen ganz in Ordnung zu sein. Mit einer freundlichen Schwedin hat Natascha eben schon Kaffee getrunken.
Eigentlich kann es jetzt doch nur besser werden.
Langsam lĂ€sst sie sich vom Zauber des Neubeginns tragen, der doch - nach Hermann Hesse - jedem Anfang innewohnt, der uns beschĂŒtzt und der uns hilft zu leben.

Letzte Aktualisierung: 17.01.2013 - 19.58 Uhr
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