Futter für die Bestie
Futter für die Bestie
Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Nullpunkt | Januar 2013
Ein Neubeginn?
von Monika Heil

„Schläfst du?“
Rainer wendet den Blick kurz von der Straße zu seiner Frau, die sich tief in ihren Sitz gekuschelt hat. Irene antwortet nicht. Sie hält die Augen geschlossen. Es herrscht wenig Verkehr auf der Autobahn. Rainer überlässt sich seinen Gedanken.
Einen Neuanfang haben sie sich gestern Abend versprochen. Den wievielten? Er sieht Irene vor sich, wie er sie kennengelernt hat, jung, zart, verletzlich. War das erst zehn Jahre her? Er wirft einen Blick auf die Gestalt neben ihm. Irenes Gesichtszüge sind hart geworden. Ihre jugendliche Lebhaftigkeit ist einer rastlosen Unruhe gewichen. Die Zärtlichkeit der ersten Jahre ist verschwunden. Ihre Stimmungen sind in letzter Zeit starken Spannungen unterworfen.
„Liebst du mich noch?“, hat sie gestern abend gefragt.
„Aber ja, natürlich.“ Er wusste, das war nicht ehrlich. Irene wohl auch. Dennoch hat sie erwidert:
„Dann wird auch alles gut werden. Wenn du mich lieb hast, schaffe ich es. Der Urlaub wird uns helfen.“
Härter als beabsichtigt, hat er geantwortet.
„Das hast du schon so oft gesagt, Irene. Bitte, beweise es. Sei einmal stark.“, und müde hinzugesetzt: „Auch meine Kraft ist bald erschöpft.“
„Ich weiß, es ist unsere letzte Chance. Ich werde sie nutzen.“
„Wenn du wieder rückfällig wirst, werde ich dich in die Klinik bringen müssen.“
„Nein, nein, ab morgen wird alles besser. Wir werden lange Spaziergänge unternehmen. Abends lesen wir oder sehen fern. Der Bungalow hat doch einen Fernseher?“
„Sicher.“
„Und wir gehen jeden Tag früh schlafen. Vielleicht ...“
Sie vollendete den Satz nicht. Rainer fragte nicht nach, zog sich in ein erschöpftes Schweigen zurück.

Hat er Finnland ausgewählt, weil dort der Alkohol teuer und schwer zu beschaffen ist? Nein, er wollte weit weg vom letzten Urlaubsziel, alles sollte anders sein. Der Urlaub im letzten Jahr in der Toskana war auch als Neuanfang geplant. Er endete in einer Katastrophe. In unbewachten Augenblicken hatte Irene immer wieder Wege gefunden, an Alkohol zu kommen. Rainer erinnert sich schmerzhaft an einen Abend in der Hotelbar.
„Noch einen Schlaftrunk“, bettelte Irene. „Einen Tomatensaft. Du weißt, ich liebe diese Baratmosphäre.“
Arglos ging Rainer mit ihr vom Restaurant in die Bar.
"Ein Bier, einen Tomatensaft“, bestellte er. Irene wies auf einen Gast im Hintergrund:
„Sieht der nicht aus wie Dr. Wellmann?“
Bevor er den Mann näher betrachtete, hatte sich Rainer kurz zum Bartresen umgedreht, um seine Zigarette auszudrücken. Der Barkeeper war nicht schnell genug, so daß Rainer die Wodkaflasche in seiner Hand entdeckte. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass Irene wieder einen Weg gefunden hatte, ihn zu hintergehen. Offensichtlich hatte sie den Mann bestochen. Erst in diesem Moment fiel ihm auf, daß Irene ihm jeden Abend mit einer Bemerkung über irgend einen Gast im Raum abgelenkt hatte, bis die Gläser gefüllt waren. Der Schock darüber war inzwischen längst abgeklungen. Die Bitterkeit blieb.
„Diesmal passe ich besser auf“, nimmt er sich vor. Zu lange hat er sich gegen die Erkenntnis gesträubt, daß Irene Trinkerin ist. Inzwischen gesteht er sich seine Mitschuld ein. Er hat sie viel zu oft allein gelassen, seinem Job alles untergeordnet. Das sollte nun radikal anders werden. In diesem Augenblick ist er ganz sicher, Irene aus dieser Sackgasse helfen zu können. Diese Vorstellung breitet sich in ihm aus, wie eine Landschaft der Erleichterung.
„Ja, ich liebe sie“, denkt er. Zärtlich blickt er zu ihr hinüber.

Irene tut nur so, als ob sie schläft. Ihre Gedanken kreisen unablässig um den einen Punkt:
Ich brauche etwas zu trinken. Ich bin zu nervös. Nur ein Schlückchen. Dann werde ich viel entspannter sein. In Finnland trinke ich keinen Tropfen, aber jetzt, hier in Deutschland, ein letztes Mal.
Irene räkelt sich, richtet sich auf. Alle Muskeln in ihrem Rücken empören sich über die schlechte Behandlung. Teilnahmslos starrt sie auf die vorbeifliegende Landschaft. Ein fremdes Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Ihr Gesicht. Sie greift nach der Karte und folgt, scheinbar interessiert, der vorgegebenen Route. Plötzlich durchfährt es sie wie ein Blitz, ihr Herz klopft heftig. Sie zwingt sich, äußerlich Ruhe zu zeigen. Ihrer Stimme ist keine Nervosität anzumerken, als sie fragt:
„Ist die nächste Abfahrt Celle?“
„In zehn Kilometern, warum?“
„Weißt du, dass dort das Grab meiner Eltern liegt?“
„Du hast es mir mal erzählt. Willst du hin?“
„Ja, unbedingt. Wenn wir schon mal so nahe vorbeikommen.“
Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr.
„Gut. Es ist fast Mittag. Fahren wir runter und essen dann gleich in Celle.“
Unhörbar stößt sie die Luft aus. Der erste Schritt ist geschafft. Kurz darauf verlassen sie die Autobahn.
„Findest du den Friedhof? Kennst du dich hier noch ein bißchen aus?“
„Nicht sehr. Wir werden ihn schon finden.“
Als sie die ersten Häuser eines kleinen Vorortes erreichen, hält Rainer am rechten Straßenrand an. Irenes Stimme ist ganz rau, als sie eine Passantin nach dem Weg fragt.
„Da fahren Sie geradeaus bis zur nächsten Ampel. Dann rechts bis zum Krankenhaus. Daneben liegt der Friedhof.“
„Wie sinnig“, murmelt Rainer, als er wieder anfährt. Irene hat nur einen Gedanken. Noch fünf Minuten. Wie kann sie Rainer ablenken? Sie hofft auf einen glücklichen Zufall.
„Dort ist das Krankenhaus. Da ist sogar ein Parkhaus. Lass mich aussteigen. Parke du in Ruhe ein. Ich suche schon mal einen Blumenladen. Wir treffen uns am Friedhofseingang.“ Ihre Wangen sind gerötet. Ihre Augen glänzen fiebrig. Steif wie eine Holzpuppe steigt sie aus. Ihr Herz rast davon, ihr Atem hinterher. Sie versucht, beide wieder einzufangen, zwingt sich, langsam zu gehen, solange Rainer sie noch im Rückspiegel beobachten kann. Ihre Blicke suchen die Gegend ab. Dort! Ein Reklameschild für Bier. Ein Zeitungskiosk mit Getränken, daneben ein Blumenladen! Sie hastet über die Straße.

Der Kioskbesitzer bedient einen älteren Mann im Trainingsanzug, der quälend langsam sein Geld zusammensucht.
„Ein Fläschchen Cognac bitte!“
Fast flehend sieht sie den Verkäufer über die Schulter des alten Mannes an.
„Langsam, junge Frau. Einer nach dem anderen. Wie beim Brötchenbacken.“
Aufgeregt blickt Irene in Richtung Parkhaus.
„Lieber Gott, lass ihn nicht so schnell einen Parkplatz finden“, betet sie lautlos. Es erscheint ihr endlos, bis der alte Mann sein Wechselgeld eingesteckt hat und den Platz an der schmalen Verkaufstheke frei macht.
„Cognac!“
Mehr bringt Irene nicht heraus. Der Verkäufer greift in ein Regal.
„Groß oder klein?“
Er hält ihr zwei Flaschen entgegen.
„Die kleine.“
Zitternd öffnet sie den Schraubverschluß. Verstohlen blickt sie sich um.
„Erst mal zahlen, Madame.“
Der Verkäufer will wieder nach dem Fläschchen greifen. Irene ist flinker. Mit einer fahrigen Bewegung dreht sie sich ab und setzt die Flasche an. Sie nimmt zwei große Schlucke, atmet dann tief durch.
„Ich hatte Durst.“ Ihr Lachen klingt, als rollten Bleikugeln über ein Tablett aus Blech.
„Das sieht man“, knurrt der Kioskbesitzer. Er nimmt das Geld entgegen. Missbilligend schüttelt er den Kopf.
„So jung und schon so kaputt“, denkt er und betrachtet sie unauffällig. Eigentlich wirkt sie sehr gepflegt. Die blonden Haare trägt sie hochgesteckt, das Kostüm ist nach der neuesten Mode geschnitten. Nur ein leichtes Zittern ihrer Hände verrät sie. Er kennt sich da aus. Noch einmal schaut er in ihr Gesicht, sieht ein Erschrecken in ihren dunklen Augen, die eben noch geleuchtet haben. Er folgt ihren Blicken und sieht einen großen, gut aussehenden Mann auf den Kiosk zustürmen.
„Irene!“, schreit Rainer. Seine Stimme gefriert die Szene ein. Passanten bleiben stehen. Er achtet nicht darauf. Mit weit ausholenden Schritten läuft er auf den Kiosk zu. Irene steht starr vor Schreck. Die Flasche hält sie noch in ihrer rechten Hand.
„Mein Gott, Irene!“ Erschütterung liegt in seiner Stimme. Er schlägt ihr die Flasche aus der Hand. Mit einem unschönen „Klirr“ zerspringt sie am Boden. Sie ist leer.
Bei diesem Ton zerbricht in Rainer die letzte Hoffnung. Er weiß, seine Frau wird ihren ärgsten Feind nicht aus eigener Kraft besiegen können. Und er weiß, sie hat den Rest seiner Liebe in einem Augenblick der Schwäche vergeudet. Mit hartem Griff umfasst er ihren Arm und zieht sie in Richtung Parkhaus, ohne sich um die Scherben zu kümmern.
„Wir fahren nach Marbach zurück.“
„Nein!“, schreit sie. „Ich will auf den Friedhof!“
„Vergiss es!“, schleudert er ihr entgegen. Ein hartes Schluchzen erschüttert ihren Körper.
„Rainer, bitte! In Finnland trinke ich keinen Tropfen mehr. Bestimmt!“
„Schon gut, Liebes. Komm jetzt.“

Als der Kioskbesitzer mit einem Besen in der Hand aus dem Büdchen tritt, registriert er das müde Gesicht und die verschlossene Miene des Mannes. Unausgesprochen solidarisiert er sich mit dem Fremden, der langsam wieder in Richtung Parkhaus geht. Die Frau folgt ihm widerspruchslos.

2. Version

Letzte Aktualisierung: 13.01.2013 - 11.32 Uhr
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