Der Tod aus der Teekiste
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Nullpunkt | Januar 2013
Die Lichter von L.A.
von Anita Cudok

Wenn ich Glück habe, sterbe ich, bevor mich die Alte wieder aus dem Kofferraum holt. Aber ich will nicht sterben - ich will hier raus! Möchte wissen, was das durchgeknallte Muttertier mit mir vorhat.
Scheiße! Die Fesseln an den Handgelenken schnüren mir das Blut ab. Meine Finger sind schon ganz taub.
Wieso hat die mir einen Kartoffelsack übergestülpt? Was will die Hirschkuh damit bezwecken? Dass ich sie nicht erkenne? So ein Unsinn! Ich weiß genau, dass es Chelsea Grey ist, die mich überfallen und gekidnappt hat. Nicht einer von meinen Kunden hätte die kriminelle Energie dazu gehabt. Nicht einer!
Außerdem habe ich ihre Stimme erkannt, die kann man gar nicht verwechseln: so schrill, so laut.

Die Tochter dagegen … Hat nie richtig den Mund aufgemacht. Wie hieß die eigentlich? Jenny? Nee, war ein Doppelname! Jessica-Rose? Jennifer-Nicole? Ach Gott! Es waren so viele ... Nein! Ich hab’s: Jamie-Lynn! Jamie-Lynn, die ist so dünn. Reimt sich sogar. Naja, ein bisschen.

Luft! Ich krieg so schwer Luft. Ist das eine Panikattacke? Oder ein Herzanfall? Verdammt! Muss mich zusammenreißen, ablenken - an was Schönes denken: an die Arthur-Firestone-Agenturen! Meinen Kontostand!
Schön. Schön. Aber Jamie-Lynn … geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich reime schon wieder. Bin ich im Delirium? Nein; nur hysterisch.
Wo war ich? Ach ja! Bei Jamie-Lynn.
Die dumme Pute hat einfach nichts gerafft. Null Ausstrahlung, Null Talent, eine glatte Doppelnull! Nicht zu gebrauchen für Film und Fernsehen. Konnte sich nicht mal einen Vierzeiler merken. Außerdem hatte sie absolut nichts Besonderes an sich – genau wie die Anderen aus der Kartei.
Hätte ich das etwa den Leuten ins Gesicht sagen sollen?
Tz! Wäre Harakiri für die Agentur gewesen! Das macht keiner freiwillig, der seine fünf Sinne beisammen hat. Die Welt will betrogen werden. Ist so!
Herrgott! Kann ich was dafür, wenn die Alten das nicht durchschauen? Liegt vielleicht daran, dass die ihre Brut mit anderen Augen sehen. PP. Persönliches Pech! Eigenes Risiko! Nicht mein Problem.
Ich hab niemanden dazu ermuntert, seine Kinder aus der Schule zu nehmen, von Familien und Freunden zu trennen und nach Los Angeles zu bringen. Das haben sie alle selbst zu verantworten: die Spinner, die sich einbilden, alle Welt warte nur auf eine billige Kopie von Britney Spears, Michael Jackson oder Justin Timberlake. Lächerlich!
Genau wie die Loser, die selbst nichts auf die Reihe gekriegt haben und für die es nun der Nachwuchs richten soll. Ich könnte kotzen!

Wo immer die Frau mit mir hin will … Sind wir nicht bald am Ziel? Wie lange reicht der Sauerstoff in einem Kofferraum? Gott, mir wird ganz schlecht!
Es ist so heiß und stickig hier drin. Verdammt! Wann hält die endlich an? Ich! Will! Hier! Raus!

Mein Mund ist wie ausgetrocknet. Wasser. Ich brauche Wasser.
Hätte ich vorhin mal lieber Wasser getrunken, anstatt Black Russian und Champagner, dann hätte mich die Alte nicht so leicht überwältigen können. Hätte. Hätte. Hätte. Hätte den Wagen nicht auf dem dunkelsten Parkplatz abstellen sollen, ich Idiot! Super, Arthur! Hätte der Hund nicht geschissen, hätte er den Hasen noch gekriegt.
Oh Mann!
Wie lange sind wir jetzt unterwegs? Dreißig Minuten? Vierzig? Wann habe ich die Afterworkparty verlassen? Ach egal.
Und trotzdem. Irgendwas muss mir die alte Schreckschraube ja vorwerfen. Bloß was? Wahrscheinlich denkt sie, ich hätte sie über den Tisch gezogen. Ha! Blöde Kuh. Was glaubt die denn? Wenn nicht ich, dann hätte es eine andere Agentur getan. Los Angeles ist voll davon. Das rechtfertigt noch lange keinen Mord.

Jesus Christus! Nun ist aber gut. Wer sagt denn, dass sie mich gleich umbringt? Man kann doch über alles reden. Vielleicht lässt sie mich laufen, wenn ich ihr erzähle, wie viele Klinken ich putzen musste ... Ist nämlich ein hartes Stück Arbeit gewesen, handsignierte Fotos von Emma Watson, Hannah Montana, Macaulay Culkin und Daniel Radcliffe zu bekommen. Hat sich aber gelohnt, denn das macht Eindruck auf die Kunden. Sechzig Prozent sind davon überzeugt, dass ich die Künstler unter Vertrag habe, nur weil ihre Bilder in meinen Büros hängen – das muss man sich mal vorstellen. Sie vergessen einfach, dass sie in Hollywood sind. Hier ist doch alles Täuschung.

Mag sein, dass sich Chelsea Grey betrogen fühlt. Mag sein. Aber falls sie sich bei jeder Nase dafür rächen will, hat sie viel zu tun. Da kann sie bei meinem Steven Spielberg-Double anfangen und bei meinen Mitarbeitern aufhören. Haben alle nur ihre Rollen gespielt.
Ob perfekt inszenierte Begeisterung, einstudierte Gestik oder schwammige Andeutungen über „bevorstehende Projekte“ – nichts davon war echt. Meistens jedenfalls.
Hat sich ausgezahlt, dass ich ein paar Semester Psychologie studiert habe, nachdem ich von der Schauspielschule flog.

Möchte wissen, wie weit die noch mit mir fahren will.
Autsch! Verdammt holprig hier. Sollte sich mal neue Stoßdämpfer anschaffen, die dumme Nuss. Aber dafür fehlt ihr das Geld, ist ja klar. Wie kann man auch nur so dämlich sein, die ganze Kohle in seine Plagen zu investieren?
Gott! Scheiße! Hoffentlich ist die jetzt nicht völlig pleite. Es soll ja welche geben, die drehen dann durch. Herrschaftszeiten! Cool down, Arthur Firestone. Keine Panik. Cool down! Ruhig bleiben, rational denken. Stimmt eh nie, was in den Zeitungen steht. Das ganze Gerede vom Wegfall der Mittelschicht und von sozial Verarmten, die zu allem fähig sind - absoluter Quatsch. Maßlos übertrieben. Reine Sensationsmache um die Auflage zu steigern. Weiß ich doch am besten.

Und selbst wenn … Angenommen, die hat jetzt begriffen, dass das Töchterlein nicht das Zeug zum Star hat … dann würde ich ihr trotzdem keinen Raub oder Mord zutrauen … Glaube ich jedenfalls.

Nee, ich bin mir sicher.
Wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
Werde ihr einfach anbieten, den Vertrag rückgängig zu machen - obwohl sie es war, die auf dem Komplettpaket bestanden hat. Chelsea, nicht ich. Habe mich damals schon gefragt, ob sie sich die Setkarten, den Schauspielunterricht und die Ballett- und Gesangsstunden wirklich leisten kann. Hat ja fünf Riesen im Monat verschlungen, drei Jahre lang.

Oh! Sie verringert die Geschwindigkeit. Wir scheinen am Ziel zu sein. Der Wagen hält, der Motor ist aus. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Eine Autotür klappt zu. Dann hebt sich der Kofferraumdeckel. Frische Luft strömt herein wie eine Flutwelle. Ich werde geblendet von der Taschenlampe in ihrer Hand, schließe kurz die Augen. Im selben Moment hat sie mich wieder überrumpelt. Ich spüre Schläge, spüre ihre Wut. Spüre, dass sie die Taschenlampe als Waffe benutzt. Boam! Boam! Boam! Aua! Aufhören.
Prügelt mit der ganzen Kraft ihres Zornes auf mich ein. Es ist ihr egal, wo sie mich trifft: Kopf, Oberkörper, Nieren - alles tut weh. Bin ihr in der Enge des Raumes völlig ausgeliefert. Blute ich? Muss eine Platzwunde am Kopf haben. Fühle die warme Flüssigkeit von der Augenbraue runterlaufen. Hilfe! Hört mich denn keiner?
Dann ist Ruhe. Ein Augenblick der Besinnung? Ich schöpfe Hoffnung.
„Raus hier, Agentenarsch!“, bellt sie.
Ich will es versuchen, doch ich kann mich nicht alleine aufrichten. Wenn sie wenigstens meine Fesseln lösen würde, dann könnte ich mich aufstützen. Aber sie ist immer noch aufgebracht - und ungeduldig.
Sie zerrt mich aus dem Kofferraum und stößt mich zu Boden. Das Gelände ist leicht abschüssig, das fühle ich. Beinahe wäre ich weggerollt. Doch sie setzt sich auf meinen Brustkorb und verhindert es.
„Alles deine Schuld, Arthur Firestone!“, brüllt sie in mein Ohr. „Mein Mann hat mich verlassen, das Haus wird versteigert und unser Kind ist total am Ende. Verstehst du? Auf dem Nullpunkt, tiefer geht’s nicht.“
Etwas an ihrer Stimme beunruhigt mich. Ich wünschte, sie würde mir endlich den blöden Sack vom Kopf ziehen - doch sie denkt nicht dran.
„Umbringen sollte ich dich dafür.“
Ich schließe die Augen - und rechne mit dem Todesstoß. Doch nichts passiert. Sie verharrt unschlüssig auf meinem Brustkorb, dann erhebt sie sich schwerfällig.
„Wenn meine Tochter nicht wäre, hätte ich es getan“, höre ich sie sagen. „Ich hätte dich getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber nun hoffe ich, dass du von ganz allein hier stirbst. Gute Reise, Arthur Firestone.“

Ihr Todesstoß ist ein kräftiger Tritt in meinen Hintern. Mit Schwung rolle ich einer ungewissen Zukunft entgegen, kullere immer schneller abwärts wie ein Fass Bier. Ich spüre Tannenzapfen, Wurzeln und Äste unter mir. Sie bohren sich in meine Rippen und brechen unter meinem Gewicht auseinander. Dann pralle ich seitlich gegen einen Baum. Mühsam rappele ich mich hoch. Ich laufe, strauchele, falle. Immer wieder. Durch das Sackleinen kann ich kaum etwas erkennen, das Mondlicht ist einfach zu schwach. Laufe ich im Kreis?

Könnte heulen, so verzweifelt bin ich. Und dann ist der Waldboden zu Ende. Ganz plötzlich. Ich spüre Asphalt unter den Sohlen. Harten Asphalt. Tschakka! Endlich habe ich aus dem Wald herausgefunden.
Ich bin auf dem richtigen Weg. Halleluja!
Und nun das: Also, wenn das keine Fata Morgana ist, dann sehe ich tatsächlich Lichter in der Dunkelheit. Durch das Sackleinen sehen sie aus wie Scheinwerfer. Jetzt wird alles wieder gut. Ich laufe den Lichtern entgegen.

©Anita Cudok 3.Version

Letzte Aktualisierung: 27.01.2013 - 11.02 Uhr
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