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Nullpunkt | Januar 2013

Null Problem!
von Barbara Hennermann

Die Verwandlung kam über Nacht.
Gestern noch traurig tropfenden Büsche sind zu weiß bereiften, filigranen Kunstwerken mutiert.
Der matschbraune Rasen hat sich eine Decke aus Eiskristallen übergezogen und sogar der kleine Gartenteich täuscht mit einer dünnen Eisschicht auf seiner Oberfläche beschauliche Ruhe vor.
Temperatursturz um fünfzehn Grad!

Marie kommt aus dem Garten ins Haus gestürzt.
Der Frost hat sie in die kleine Nase gebissen und ihre Wangen rot poliert.

„Ooooomiiiii?“
Oje. Diese Tonlage kenne ich.
Sie leitet bei Vierjährigen beiderlei Geschlechts wichtige Lebensfragen ein, die sie dann mit der Intensität einer hungrigen Zecke in dein Erwachsenenleben schrauben.

„Ooomi?“
Aha. Nun kommen die Forderungen.

Unter der auf den blonden Locken schief gerutschten Bommelmütze strahlen mich zwei dunkelblaue Augen an.
„Omi, wer war das?“
Wie? Wer war was?
Ich drehe erst einmal den Backofen aus. Das kann jetzt länger dauern …
Recherchiere dann blitzschnell – Großmütter haben schließlich einen Ruf zu verlieren.

„Ach so, Marie, du meinst, wer den Garten heute Nacht so verändert hat?“
Ihr heftiges Nicken lässt die Mütze ganz vom Kopf verschwinden.
Wen kümmert es, dass sie jetzt schmatzend das Schmutzwasser aufsaugt, das sich langsam um Maries Stiefel ansammelt?
„Das war der Frost, mein Schatz.“
Ich seufze leise, denn ich weiß bereits im Voraus –
„Omi, wer ist der Frost?“

Meine Güte, wieso hat eigentlich der passende Großvater immer das Glück, bei Lebensfragen aushäusig zu sein? Ohne ihn wären die Baumärkte in fünfzig Kilometer Umkreis wahrscheinlich längst alle insolvent. Und dann häuft sich das Zeug bei uns im Keller. Rentnerschätze! „Aber selbstverständlich brauche ich das alles noch! Irgendwann. Das ist doch kein Problem, Schatz, Null! Warum regst du dich nur immer gleich so auf?“

„Der Frost, Marie? Naja, das hat was mit den Temperaturen zu tun.“

Meinen Sohn, dessen Abkömmling mich hier mit seinen Augen fixiert, wünsche ich auch manchmal ins Pfefferkuchenland! „Mutti, du wirst es mit deiner beruflichen Erfahrung ja wohl hinkriegen, dem Kind keine Storys von Elfen und Wichteln zu erzählen, sondern Fragen naturwissenschaftlich zu beantworten.“
Erfahrung hin oder her – warum eigentlich immer ich, bitte schön?


„Omi, was sind denn Temperaturen?“
Eben. Ich wusste, was kommt!
Und ich hätte dabei eine wirklich schöne Geschichte vom Elfenkönig Frost parat gehabt, wie er durch das Land reitet und mit seinem Zauberthermometerstab die Null auf die Bäume und Felder und …

„Ooooomiii?“
„Ja nun, Marie, Temperaturen kann man messen. Mit einem Thermometer. Schau mal, da hab ich eines in der Schublade!“
Marie nimmt es in die Hand. Fühlt sich von ihrem Anorak beengt und beginnt, sich wie eine Schlange aus ihm herauszuwinden. Bleibt im Ärmel stecken, zieht fester … ratsch …
Es wäre wohl besser gewesen, ihr nicht gerade das Bratenthermometer als Anschauungsobjekt zu geben.
Sie zieht es energisch durch den Ärmel, ohne sich um dessen erbitterten Widerstand zu kümmern. Ich weiß, sie mag keine Hilfestellung beim An- und Ausziehen …
Geschafft!
„Omi, und wo ist da der Frost drauf?“
Ich entferne konzentriert ein paar Anorakreste vom Bratenspieß. Es hat mich schon früher immer total angenervt, wenn das Anschauungsmaterial nicht in Ordnung war!
„Weißt du, Marie, äh, das hier ist nun gerade kein Thermometer, mit dem man das messen kann. Es gibt nämlich, äh, ganz viele verschiedene Thermometer. Lass uns mal auf das am Balkon sehen!“

Standortveränderung. Hier kann man den Frost auch wieder spüren. Marie strahlt. „Omi, wo ist es?“

Gute Frage. Wo ist es? Ich finde nur ein kleines, schwarzes Kästchen.
Ja richtig! Wir haben uns modernisiert! Wie sprach doch der passende Großvater neulich? „Ich hab das olle Thermometer vom Balkon weggeworfen und dafür eine super Wetterstation gekauft.“


„Ach, Marie, das hat der Opa wohl weggegeben, fällt mir grade ein. Aber macht nichts. Ich zeig dir was anderes.“
Ich nehme sie an der Hand und gehe mit ihr zum Gartenteich.
Mist! Meine Hausschuhe stehen nach wenigen Metern unter Wasser.
„Schau mal, Marie. Siehst du das dünne Eis auf dem Wasser?“
Natürlich sieht sie es nicht nur, sondern will es auch anfassen.
„Nein, warte, das macht die Omi, sonst fällst du mir noch ins Wasser!“

KNIRSCH!
Hätte echt nicht gedacht, dass der Rasen so glatt ist! Na ja, und die Hausschuhe haben wohl auch nicht die richtigen Sohlen …
Marie prustet vor Lachen. Ich bewahre Haltung, als ich mich von dem verschmierten Rasen erhebe und mein rechtes Bein aus dem Wasser ziehe. Immerhin habe ich ein Stückchen Eis!

„Mach die Hand auf, Marie!“
Prompt hört sie mit dem Gelächter auf und streckt mir ihre Hand hin. Ich lege das Eisstückchen darauf („Nicht verlieren, Schatz!“) und eile mit ihr in die Küche zurück. Während ich meine durchweichten Hausschlappen nebst Hose zu Maries Anorak schmeiße, beobachtet sie das Eis auf ihrer Hand.

„Oooomiiiii?“
„Ja Marie?“
„Ich hab´s doch verloren. Es ist weg.“
Wasser tropft von ihrer Hand.
„Es ist geschmolzen, Marie.“
„Wer hat das gemacht, Omi?“
„Du mit deiner warmen Hand.“
Ein finsterer Blick aus blauen Augen trifft mich.
„Wollt ich aber behalten!“
Ich nutze den Augenblick.
„Siehst du Marie, das sind die Temperaturen. Deine Hand ist warm, das Eis ist kalt. Und weil erst ab Null Grad aus Wasser Eis wird, macht eben deine warme Hand das Eis wieder zu Wasser. Und genauso macht es der Frost auch, bloß umgekehrt.“
Hinter der Kinderstirn jagen sich sichtlich die Gedanken.
„Aber dann müsst´ ich den doch kennen, oder?“
Ich atme tief durch. Marie hat aber wohl keine Antwort erwartet. Noch nicht …
„Und wer hat den Frost gemacht, Omi?“

Maries Mutter, meine Schwiegertochter also, eine studierte, emanzipierte, erfolgsorientierte Frau von mittlerweile neununddreißig Jahren, hatte uns Großeltern bereits im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft mitgeteilt, sie würde das Kind auf keinen Fall taufen lassen, um „ihm nicht die Freiheit der eigenen Entscheidung zu nehmen. Und es wäre mir sehr wichtig, Babs, dass du mit Geschichten vom lieben Gott und all so was außen vor bleibst.“
Mal ganz abgesehen davon, dass mich seit meinem vierzehnten Lebensjahr niemand mehr mit dem dümmlichen „Babs“ anspricht – es erstaunt mich auch immer wieder, wie anspruchslos mein Sohn geworden ist …


„Ja Marie, wer hat den Frost gemacht? Lass uns doch mal überlegen:
Du warst es nicht und ich war es auch nicht, denn das hätten wir gemerkt, oder?“
Heftiger Auf- und Abschwung blonder Locken.
„Na siehste.
Dein Papa war es nicht und deine Mama auch nicht, weil die sind ja gar nicht da.“
Wiederum fliegen die Locken auf und ab.

Verdammt noch mal, wer hat denn nun den Frost gemacht? Der liebe Gott darf´s ja nicht gewesen sein. Und ein Fabelwesen auch nicht.
Meine Laune sackt so langsam in gefährlich frostige Tiefen hinunter. Naturwissenschaften waren im Übrigen noch nie mein Ding, das möchte ich nur mal am Rande anmerken. Und warum muss eigentlich immer ich …? Das nervt! Soll ich vielleicht für den Rest der Familie den Hanswurst geben oder was?


„Omi?“
„Ja Marie?“
„Omi, ich glaub, das war der Opa! Der holt doch im Baumarkt immer so Sachen, gell? Und dann arbeitet er das Null Problem.“
Blaue, strahlende Kinderaugen. Nachdrücklich wippende Blondlocken. Sanft gerötete, runde Kinderwangen …
Ich nehme sie in die Arme und drücke sie fest an mich.
„Meine Güte, Marie! Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin!“


©hb 1/2013/V2

Letzte Aktualisierung: 25.01.2013 - 16.38 Uhr
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