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Nullpunkt | Januar 2013

Kastor und Pollux
von Reiner Pörschke

„Noch 300 Kilometer, dann bin ich bei Ursel.“

Thomas raste über die „Méditeranée“, die Autobahn, die nach Südfrankreich führt. „Ich muss möglichst schnell ankommen“, dachte er. Endlich hatte sie ihn eingeladen, die kurze gemeinsame Zeit würde kostbar sein. Er war in Ursel verliebt und in Südfrankreich, wo er früher schon unvergessliche Tage verbracht hatte. Vin rouge, grüne Hügel, helle Sonne jetzt noch im Dezember, französische Ortsnamen wie Musik: Dijon, Chalon, Lyon oder Valence, gingen ihm durch den Sinn. Dass Ursel jetzt ausgerechnet in der Provence wohnte, während er sich in den letzten Monaten im Norden als Loser gefühlt hatte, schien bittere Ironie des Schicksals zu sein.

Ursel kam aus dem Schwabenland. Deshalb hieß sie eigentlich „Urschel“. „Ich bin die Urschel“, das war der erste Satz, den er von ihr gehört hatte und der seine Freunde immer noch erheiterte. Sie war nicht eigentlich schön, aber ihrer kessen weiblichen Ausstrahlung war er schnell verfallen. Er liebte sie seit zwei Jahren, ihre schwarzen Haare und vor allem ihren Körper, ihre Schenkel, ihren Busen. Wie oft hatten sie im kargen Zimmer des Studentenwohnheims miteinander geschlafen! Ihre Brüste hatte er aus einer Laune heraus zärtlich Kastor und Pollux genannt, dem aus der griechischen Mythologie bekannten Zwillingspaar. Sie hatte sich schnell revanchiert und nannte sein bestes Stück nur noch Siegfried.

Schon mittags in der Mensa trieb sie damit ihre Späße und sagte vor anderen am Tisch laut zu ihm: „Kastor will heute Siegfried sehen.“ Das führte zu erstaunten Blicken und Fragen der Anwesenden, die sie mit vagen Andeutungen über alte Bekannte aus ihrer Heimat abspeiste. Wenn Thomas sich im Bett Kastor widmete, wisperte sie: „Vergiss Pollux nicht.“ Oder es hieß am Ende: „Heute hast du Pollux vorgezogen, schäm dich!“ An guten Tagen dagegen: „Siegfried war heute sehr tüchtig.“

Ursel wollte Französischlehrerin werden und arbeitete jetzt für ein Jahr an einem Gymnasium in Montélimar als „assistante“, einer Art Praktikantin. Er war in umgekehrter Richtung von München aus in den Norden zurückgekehrt, weil er sich dort beruflich bessere Chancen ausrechnete. In den zurückliegenden sechs Monaten hatten nur noch Briefe die 1500 Kilometer zwischen ihnen überbrücken können, viele von ihm, wenige von ihr. „Schlimme Zeit“, dachte er, „und die neuen Kollegen sind so verbissen und humorlos.“ Jeden Tag dachte er an die Freundin in der Ferne. Abends lief er oft allein durch leere Straßen in der grauen Stadt, in der er nun wohnte. Zurückgekehrt hörte er in seiner tristen Bude noch ein paar Lieblingsplatten und schlief nach dem dritten Glas endlich ein.

Aber sie hatte sich ja vor vierzehn Tagen gemeldet. „Besuch mich vor Weihnachten hier in der Provence. In Frankreich beginnen die Weihnachtsferien an den Schulen. Jetzt haben wir endlich Zeit füreinander, und ich kann dir die wunderschöne Umgebung zeigen.“


Als er in Montélimar ankam, waren Lehrer und Schüler fort, das weitläufige Gymnasium menschenleer. Sie wohnte weiter in ihrem kleinen Appartement auf dem Schulgelände. Neugierig trat er ein, warm, niedlich, gemütlich war es hier. Dann verschlangen seine Augen nur noch Ursel, er fühlte: “Bei mir hat sich nichts verändert.“ Ihrem strahlenden Blick aus den grünen Augen war er nach wie vor nicht gewachsen. Was sie dachte und sagte, war ihm in diesem Augenblick völlig egal, Hauptsache, sie war wieder bei ihm. Nach dem Abendessen in ihrem kuscheligen Nest und zwei Gläsern Rotwein hauchte sie ihn an, wie früher: „Magscht mich ein bissel lecken? Kastor und Pollux haben auch schon oft nach Siegfried gefragt.“ Er hätte schreien können vor Glück ...

Später tranken sie noch ein Glas Wein, da wurde sie auf einmal ernst: „Hier im Gymnasium arbeitet ein englischer assistant, Jeremy, so wie ich.“ „Ach ja?“, er horchte auf. Sie zeigte ein Foto von ihm, ein attraktiver, durchtrainierter Bursche mit wuscheligem Haarschopf grinste ihn an. „Du, mit dem habe ich geschlafen.“ Hatte er richtig verstanden? Schweiß brach bei Thomas aus. Er starrte sie wortlos an, als er weiter hörte: „Ich weiß nicht, ob ich schwanger bin.“ Erwidern konnte er immer noch nichts. Sie fuhr in ruhiger Tonlage fort: „ Ich brauch’ dich. Wir fahren zusammen zurück nach München. Ich geh dort zu meinem Frauenarzt, Schwangerschaftstest. Hilf mir.“ Das wäre nun eigentlich Sache dieses Jeremy, dachte er, langsam wieder zu Verstand kommend. Sie erriet seine Gedanken. „Jeremy musste nach England, sind ja jetzt Ferien. Was dringendes mit seinen Eltern!“ Er blickte verstört in ihr vertrautes, geliebtes Gesicht und nickte schließlich ergeben. „OK, ich muss ja auch wieder nach Hause.“

Die lange Rückfahrt verlief eher schweigsam, jeder grübelte vor sich hin. Ursel ging in München zum Frauenarzt, er wartete am Ausgang der Praxis. „Nicht schwanger!“, rief sie ihm beim Herauskommen triumphierend zu. Er schaute sie an, sie kam ihm plötzlich wie eine Wachspuppe aus dem Schaufenster vor, und dachte: „Schwangerschaft wie meine Liebe, beide auf dem Nullpunkt.“

Nur für Siegfried tat es ihm leid, der würde Kastor und Pollux nie mehr wiedersehen.

Reiner Pörschke 3. Version

Letzte Aktualisierung: 14.01.2013 - 22.13 Uhr
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