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Nullpunkt | Januar 2013

Salto Mortale
von Klaus Freise

Robert und Julia Hoffmann standen beide im Badezimmer vor dem Spiegel. „Soll ich dir mit der Krawatte helfen?“
Robert zupfte und zerrte mit hochrotem Kopf. „Nee, lass mal, geht schon.“
Seit drei Jahren waren sie verheiratet und hatten schon eine gewisse Routine entwickelt.
Julia trug Wimperntusche auf und sah konzentriert in den Spiegel. „Übrigens, die Glühbirne oben an der Treppe ist kaputt.“
Ãœber einen Internetchat hatten sie sich kennengelernt. Dann E-Mails ausgetauscht.
Er strahlte sich selbst an. „Na, wie sehe ich aus?“
Sie richtete sich in ihrem Abendkleid auf. „Hast du gehört, die Glühbirne oben an der Treppe ist kaputt. Ich habe eine neue Birne auf den Küchentisch gelegt.“
Er steckte sich die Krawattennadel an. „Ja ja, mache ich morgen.“
Sie hatten per Mailanhang Fotos ausgetauscht. Robert war sofort Feuer und Flamme für Julia gewesen.
Sein Blick wanderte über ihr rückenfreies Satinkleid, blieb an den Bewegungen ihrer Schulterblätter unter der braunen Haut hängen. „Siehst lecker aus.“ Dann grinste er. „Ich glaube du trägst das Kleid falsch herum.“
Bei ihrem erstes Treffen hatte Roberts selbstsicheres Auftreten ihr imponiert, sein Charme sie verzaubert und dann hatte er auch noch Geld.
Sie verdrehte die Augen und griff nach dem Lippenstift. „Sieh lieber zu, dass du fertig wirst, wir müssen los.“
Und sie hatte seine Gier nach ihrem schlanken Körper mit Liebe verwechselt.
Er küsste ihren Nacken. „Du riechst gut.“
Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Du aber nicht. Hast du wieder vorgeglüht?“
Er streichelte ihren Po. „Naja, nüchtern ist dein Vater ja schwer zu ertragen.“
Julias Vater, Edgar, hatte auf der Hochzeit schon über Robert gesagt: „Der stinkt nach Geld und Alkohol.“ Sie hatte es nicht hören wollen.
Sie begutachtete ihre Lippen. „Lass das, ist wohl besser, wenn ich fahre. Es ist sein achtzigster Geburtstag. Versuch wenigstens dies eine Mal, dich zu benehmen.“
Er griff zu. „Ganz schön knackig. Kommt das von deinem neuen Training, Karate oder so?“
Julia stieß ihn weg. „Jetzt hör auf, meine Frisur. Nimm deine Hände weg. Du tust mir weh!“ Bestürzt sah sie seinen Blick im Spiegel. Er lächelte nicht mehr.

Robert war allein gefahren. Er würde ihr Fehlen wohl mit einem heftigen Migräneanfall entschuldigen. Sie saß auf dem Klodeckel, das Gesicht in die Hände gestützt. Schwarz gefärbte Tränenstreifen rannen durch ihre Finger und fielen als dunkle Flecken auf die Fliesen. Der rechte Spaghettiträger ihres Kleides war zerrissen. Der Stringtanga hing um ihren linken Knöchel. Diese Demütigungen mussten aufhören. Heute Nacht. Jetzt. Sofort.

Es war fast halb eins, als Julia seinen Mercedes in der Einfahrt hörte. Sie stand am oberen Ende der Treppe und wartete angespannt. Dann hörte sie, wie er mühsam den Schlüssel in das Schloss der Haustür fummelte. Die schlurfenden Schritte eines Betrunkenen. Im Flur warf er polternd die Autoschlüssel auf den kleinen Schuhschrank und rief unbekümmert: „Bin wieder da, Schatzi.“ Am Fuß der Treppe blinzelte Robert nach oben in die Dunkelheit. „Schatzi?“, lallte er noch einmal. Sie stand im Schatten der defekten Wandlampe. Grundposition. Langsam, sich mit beiden Händen an Wand und Geländer abstützend, erklomm er die Treppe. Zwei Stufen vor dem oberen Absatz blieb er stehen. „Na, Schatzi, hast du schon das Nachthemdchen an?“ Die Wand bot seiner tastenden Hand nicht genug Halt, als er die nächste Stufe verfehlte. Er schrie auf, ruderte hilflos mit den Armen, ergriff, verzweifelt Halt suchend, die Lampe. Mit einem lauten Knall erlosch auch das restliche Licht im Haus. Polternd fiel er rücklings die Treppe hinab. Sein Kopf schlug auf die hölzernen Stufen, wie der Klöppel eines Xylofons. Sie verharrte, bis sie sicher war, dass sich am Fuß der Treppe nichts mehr regte. Langsam ging sie zum Telefon, das auf dem Nachtisch stand und wählte eins eins zwei.
„Hallo, hier Julia Hoffmann, hören Sie? Mein Mann ist die Treppe herunter gestürzt.“

Klaus Freise Version 2

Letzte Aktualisierung: 04.01.2013 - 19.55 Uhr
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