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Nullpunkt | Januar 2013

Was habe ich heute gemacht?
von Daniela Gerlach

Meistens wacht sie ein paar Minuten vor dem Weckerklingeln auf. Sie hört seinen Atem, Tiefschlafatem, dann ihre Gedanken. Viertel vor sieben, fast gleichzeitig das Stöhnen eines Menschen, der einen schweren Tag vor sich hat. Drei Stunden Mathematik, zwei Stunden Englisch, aufsässige Schüler, nervige Kollegen, draußen ist es kalt, leichte Magenschmerzen. Sie spürt es, sieht es, als wäre sie er, sie ist immer dabei. 
Jetzt steht sie auf, zieht sich den Bademantel über, geht in die Küche, setzt Wasser auf, dann auf die Toilette, und hier unter dem zögerlichen Licht der Sparbirnen Müdigkeit. Zurück zur Küche, da steht er und gießt heißes Wasser in seine Tasse. „Ich weiß nicht, wie viel Kaffee du nimmst“, sagt er. Manchmal klingt das wie eine Entschuldigung, manchmal wie eine Rechtfertigung. In den letzten 15 Jahren hat sie diesen Satz oft gehört. Sie streicht über seinen Rücken. Während er in der Dusche ist und sie ihren Kaffe trinkt, überlegt sie, was sie heute Mittag essen sollen. In Gedanken geht sie den Inhalt des Kühlschranks und des Gefrierfaches durch. Es fällt ihr nichts ein. Nachher muss sie erst wegen der Stromrechnung anrufen, bei der Nachbarin Blumen gießen und lüften. Sie steht auf und lässt eine halbe Tasse Kaffee zurück. Man könnte ja schon mal eine Wäsche waschen. Sie holt den Korb aus dem Waschraum eine Etage tiefer. Oben im Schlafzimmer die Wäsche sortieren, das Dunkle und das Helle, er gibt ihr einen Kuss auf die Wange. „Denk dran, dass ich um halb zwei noch die Besprechung habe, ich komme erst gegen drei nach Hause.“
Das sind viele Stunden, denkt sie und freut sich ein bisschen, Stunden der Freiheit. Sie bewegt sich schneller, sie weiß stets, was sie als nächstes tun muss. Die Wäsche ist drin, die Trommel dreht sich, es ist acht Uhr. Zeit, viel Zeit, schön. Eine Dusche, damit sie sich wohler fühlt. Jetzt aber den Kamin anmachen, es ist kalt im Haus. Kamineinsatz säubern, die Asche gleich ins Blumenbeet neben der Terrasse geben und Holz mitnehmen, mit dem Kleinholz anzünden, ihre Hände sind rot und eiskalt, die Streichhölzer zerbrechen zwischen ihren starren Fingern, das erste Flämmchen, zurückhaltend, wie traurig, man muss etwas dabei bleiben, kontrollieren, ob der Rauch gut abzieht. Minuten vergehen im Viertelstunden-Takt, zehn nach neun, das kann doch nicht sein. Die Flamme züngelt, die Trommel dreht, eben noch die Tassen auswaschen, auch den Wasserkrug für das gefilterte Wasser kurz mit Essig einweichen, was wollte ich heute kochen?, fragt sie, aber sie hat ja noch Zeit zum Überlegen. Zeit haben, vielleicht auch ein bisschen für sich, wie früher, als sie allein lebte und noch arbeitete.
Am Telefon wartet sie, die Musik am Ohr, die Rechnung mit den angestrichenen Daten vor sich, sie überlegt, wie sie es sagen soll, sie sieht auf die Uhr, erst fünf Minuten, die Musik mag sie nicht, sie klingt unverschämt, beleidigend, „Bitte haben Sie noch etwas Geduld“, Uhren zeigen Zeit an, zehn Minuten. Sie knallt den Hörer auf. Die Flamme ist kleiner geworden, bloß nicht das Feuer ausgehen lassen. Sie öffnet die Kamintür und stochert im Holz, etwas Rauch tritt aus, lüften. Mal nach der Wäsche sehen, die müsste fertig sein, aber sie geht in die Küche. Was wollte ich hier? Sie sieht: Tassen auf der Abtropffläche der Spüle, Wasserpfützen darauf, ein Glas mit einem Rest Marmelade daneben, Brotkrümel. Sie trocknet die Tassen ab, macht den Lappen nass und wischt die Krümel weg, sie wäscht das Marmeladeglas aus, Wasserhahn auf und zu, hundert oder hundertfünfzig Mal am Tag. Ihre Fingerspitzen werden davon kalt, immer kalt und feucht, letzten Winter bekam sie sogar Frostbeulen, man muss die Hände gut abtrocknen, eincremen, doch immer macht man sich nass, hat etwas zu säubern. Was wollte ich heute kochen? Erst die Wäsche. Sie geht die Treppe runter, holt die Wäsche heraus, heute kann man sie draußen aufhängen, es regnet nicht, Wind geht. Betttücher, Handtücher, Unterwäsche, die weißen T-Shirts, die er unter den Hemden trägt. Die Wäsche flattert im Wind. Sie friert, schnell rein. Die Flamme züngelt noch, man muss etwas nachlegen, die Hände werden davon schmutzig, wieder in die Küche, Hände waschen, was soll ich denn kochen? Nach elf schon. Wirklich nach elf? Aber sie hat ja heute Zeit bis zum Nachmittag. Sie macht den Kühlschrank auf, sieht nichts, zu viele Gedanken in ihrem Kopf, daraus kann man kein Essen zaubern. Sie überlegt, was sie gestern aßen und vorgestern, man will ja Abwechslung. Ein paar Möhren, Zucchini, gefrorene Erbsen sind da, vielleicht eine Gemüsepfanne mit Reis. Ist genug Reis da? Obwohl ihr Mann lieber Fleisch hätte, aber sie will kein Fleisch, nicht schon wieder. Sie denkt an sein Gesicht, wenn er sich über den Teller beugt, enttäuscht, aber nein, er sagt ja nie etwas.
Dieser Anruf beim Stromanbieter lastet auf ihr, seit Tagen schon. Sie geht zum Schreibtisch, wählt noch mal die Nummer, sie wird endlich verbunden, weiterverbunden, die Wartezeiten sind kürzer, nach fünf Minuten ist es vorbei, sie hat das Problem gelöst und freut sich. Dann sitzt sie eine Weile da, sieht nirgendwohin. Ihr Mann wird sich auch freuen, dass sie das erledigt hat. Sie muss noch in die Wohnung der Nachbarin, und wenn ich doch schnell etwas Hühnerfleisch kaufe?, Bügeln müsste ich auch. Das kann sie auch am Nachmittag oder am Wochenende. Sie zieht Schuhe und Jacke an, sucht ihr Portmonee, reißt Schubladen auf, kramt und wirft alles durcheinander, vielleicht ist es noch in der Handtasche oben im Schlafzimmer, sie rennt die Treppe hoch, hier ist ja gar nicht gelüftet, sie reißt die Fenster auf. Auf dem Nachttisch findet sie das Portmonee. Wieder unten, prüft sie, ob das Feuer gut brennt, es lodert, Wärme hat sich ausgebreitet, ihr ist warm, den Zug etwas schließen, den Schlüssel von der Nachbarin auf der Anrichte, sie geht raus, schließt ab.
Draußen kommt ihr alles anders vor. Es riecht nach Feuchtigkeit und Rauch, ein Herbstgeruch, Geruch aus ihrer Kindheit. In der anderen Wohnung setzt sie sich in einen Sessel und blickt in das Fremde der Umgebung, hört in die Stille und Kühle. Sie möchte weinen. 
Zurück kommt sie mit zwei vollen Einkaufstaschen, die Haustür klemmt ein bisschen, sie setzt die Gewichte ab, schwitzt, den Schreiner muss sie endlich anrufen. Sie verstaut und füllt auf, befreit Lebensmittel aus Tüten und Folien, es knistert und raschelt. Es fehlte doch einiges, immer fehlt etwas. Bei der Bank musste sie schon wieder Geld abheben, nie kommt man aus. Sie wäscht sich die Hände, trinkt einen Schluck Wasser.
Viertel nach eins. Ab Mittag vergeht die Zeit immer schneller, sie nimmt an Geschwindigkeit zu wie ein Vehikel ohne Bremsen. Fast zwei, sie schneidet, brät, schmeckt ab, wäscht und trocknet, Teller aus dem Schrank, das Besteck, da sind Kalkflecken drauf, putzen, den Reis abgießen, zwanzig vor drei. Noch mal einen Scheit Holz drauf.
Er gibt ihr einen Kuss, sein Geruch nach Klassenzimmer steigt in ihre Nase. Er stöhnt wie ein Mensch, der einen schweren Tag hinter sich hat, er erzählt von unruhigen Schülern, von Geräten, die nicht funktionieren und von Kollegen, die anderer Meinung sind, und ja, was er noch alles vorbereiten muss, nein, er hat es nicht leicht. Sie weiß das, spürt es ja, sie sieht ihren Mann an, sein Gesichtsausdruck ist auch der ihre geworden. Sie stellt zwei große dampfende Teller hin, für ihn etwas mehr Hühnerfleisch. Er seufzt, während er sich hinsetzt. „Und du?“, fragt er, sieht sie nicht an, „was hast du heute so gemacht?“ Ein Satz, der auf und zu geht wie der Wasserhahn. „Ich? Ach, hier halt“, sagt sie.
Was habe ich heute gemacht? Sie überlegt, aber es fällt ihr nichts ein. Sie ist leer. Morgens aufgeladen, nun komplett heruntergefahren, Tag für Tag.

Letzte Aktualisierung: 26.01.2013 - 20.40 Uhr
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