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Lust(ig) | Februar 2013

How to kill an author
von Jochen Ruscheweyh

Es ist jedesmal dasselbe. Als könnte ich die ganze Welt umarmen, einen Bürgerkrieg anzetteln oder ohne Fallschirm aus einem Helicopter springen. Ich liebe dieses Gefühl, die einzige Empfindung, in der ich wirklich aufgehe; bunt, grell und explosiv. Vielleicht auch die einzige, die mein Körper mir gestattet, abseits des Alltags-Breis, durch den ich seit - ich kann mich nicht erinnern wieviel - Jahren oberschenkeltief wate.
Bis ich das nächste Mal diesen Augenblick inszenieren kann, in dem das Adrenalin langsam die Kontrolle übernimmt, mich erst vorsichtig, dann mit Gewalt auf das nächste Level hebt, auf dem die reine Körperlichkeit in den Hintergrund tritt, ein Orgasmus nicht mehr bedeutet als das kurze Kitzeln einer Feder am Panzer einer Schildkröte. Ich bin allein auf dieser Plattform, einer rezeptorischen Raketenbasis. Kein Techniker, kein Bodenpersonal. Ich würde sie verbrennen.
Dann der Schub.
Transzendenz.
Erleuchtung.
Ich.
So strahlend, dass keine Helligkeit mehr für die anderen Himmelskörper bleibt.

Zeitlosigkeit, bis zum elenden Verglühen, das sich ankündigt, wenn ich an dem schnalzenden Geräusch erkenne, dass Henry seine Latexhandschuhe abstreift.



Er geht nicht zum Rauchen vor das Studio, sondern zündet sich gegen seine Gewohnheit direkt hier vor mir eine Zigarette an. Das Ordnungsamt war letztens erst hier. Vielleicht deswegen. Henry reibt sich mit dem Handrücken über die Augen.
„Frank, wir sollten uns mal unterhalten, weil ... das ist nicht normal.“
„Wieso?“, halte ich dagegen. „Ich bezahle und du tätowierst mich.“
Er schüttelt den Kopf. „Pass auf, Frank, hier spazieren eine Menge schräger Vögel rein, die Stereoanlagen, Notizblöcke oder Teppichfliesen als Bodysuits gestochen haben wollen. Kein Problem, aber bei dir hat das eine andere Qualität.“
Ich setze mich auf und schaue ihn an.
„Ich mach es jetzt kurz und schmerzlos“, fährt er fort, „ich kann das nicht länger verantworten, dir ständig das gleiche Motiv über die selbe Stelle zu tätowieren. Und das auch noch in immer kürzer werdenden Abständen!“
„Heißt das, ich muss mir einen neuen Tätowierer suchen?“
„Herrgott, Frank, sieh das doch ein! Was ich bei dir mache, hat nichts, aber auch rein gar nichts mehr mit Tätowierkunst zu tun. Du stehst drauf, dass ich dir Schmerzen an genau dieser einen Stelle zufüge. Du müsstest mal deinen Blick sehen, wenn du hier in den Laden kommst, ich glaub, ein Psychiater würde das Obsession nennen.“
„Okay, stopp!“, werfe ich ein. „Ich bezahle dich, damit du mir Farbe unter die Haut bringst, nicht, damit du mich therapierst, Henry!“
Er hält meinem Blick nicht stand, dreht sich weg, beginnt, mit den Fingern auf seinem Oberschenkel zu trommeln.
„Versuch dein Glück“, sagt er, „aber ich kann mir keinen Kollegen vorstellen, der da“ - er deutet auf den geschwollenen Klumpen unter meiner Brust, aus dem Wundwasser, Blut und Farbe laufen – „noch mal drangeht. Es sei denn ...“
„Es sei denn, was?“
„Du findest jemanden, der den Teil von dir tätowiert, den du wirklich meinst: deine Seele.“
Ich spüre, wie das Adrenalin an meinen Synapsen zu arbeiten beginnt.
„Du kennst jemanden?“
„Schon möglich.“
„Wen?“
„Du müsstest verreisen.“
„Sag schon: wohin? Japan oder China?“
„Indonesien!“


Ich schiebe das Tablett mit dem blau geschwungenen Logo der Garuda Indonesia zur Seite. Ich kann erst wieder essen, trinken, schlafen oder einen dieser Bord-Filme sehen, wenn ich in dem Dorf gewesen bin und dort vollendet wird, was Gott nur angefangen hat.
Mein Leben lang gleiche ich einem falsch kalibrierten Monitor. Und nur wenn die Nadel dieses eine Bild des sich öffnenden Tunnels auf die Haut unterhalb meiner Rippenbögen bringt, erlebe ich für einen kurzen Moment, was es heißt, Mensch zu sein, diese eine überwältigende Emotion.
„Apa kabar?“ Die Stewardess lächelt mich an. Ich weiß, dass sie mich schon eine Weile beobachtet. Dann gibt sie mir diskret Zeichen, ihr durch die spärlich besetzte Maschine in den Mehrzweckraum zu folgen und flüstert: „Terima kasih kembali!“

„ ... nama ... Citra!“ Sie wiederholt das letzte Wort, von dem ich annehme, es ist ihr Name, öffnet mein Hemd und umfährt mit ihrem Finger die Silhouette des Tunnels. „Selamat berjaya!“, was wie ein Wunsch klingt. Dann schließt sie die Augen, holt Luft, legt ihre Lippen auf meine Tätowierung und atmet in mich aus, lange, schier unendlich, während die Maschine von Turbulenzen durchgeschüttelt wird, ich mich an ihren Schultern festhalten muss, um nicht fortgetragen zu werden.
Als die Landungsansage kommt, ist sie auf die Größe einer Fingerpuppe geschrumpft. Es gibt ein kurzes plöppendes Geräusch, wie wenn man einen Saugnapf von einer Scheibe zieht, als ich sie von meiner Haut löse und in meiner Tasche verschwinden lasse.


Ich treibe durch die Innenstadt von Pontianak wie ein mit Gas gefüllter Ballon, finde aber schließlich den Autoverleih, den Citra mir beschrieben hat.
Ich gewöhne mich an die Handschaltung und esse scharf gebratene Hühnchenflügel, während Citra, die jetzt einer geschnitzten Holzfigur ähnelt, mich aus leeren Augen anstarrt, und dort baumelt, wo ich sie hingehängt habe: am Rückspiegel. „Was geht hier vor?“, frage ich sie.


Ich bin mir sicher, dass ich mich verfahren habe. Um mich herum: vollkommene Dunkelheit und die fremdem Geräusche des Regenwaldes. Ich fühle mich leer, allein und hilflos. Vielleicht finde ich die Piste morgen wieder.
Ich taste mich mit einer Hand am Wagen entlang, während die andere Citra in meiner Tasche umklammert, suche die Fahrertür, als ein Vogel mit glühendem Schweif, ja es muss ein Vogel sein, vom Himmel stürzt, sich durch meine Tätowierung in mich hineinzwängt und in meinem Bauchraum mit seinen Flügeln schlägt.
In diesem Moment wird mir klar, was ich tun muss, schon lange hätte tun sollen. Ich krümme mich und zwänge mich hinterher durch die Öffnung, die ich mit dem Tunnelbild selbst geschaffen habe.

In mir riecht es wie in dem italienischen Hotel, in dem meine Eltern mich gezeugt haben. Ich höre Geräusche und folge ihnen in ein orangefarbenes Leuchten. Um mich herum verengen sich die Begrenzungen, pressen mich mit konvulsivischen Bewegungen nach vorn, hinaus in die Kälte, bis ich mich als zusammengekauertes, schleimüberzogenes Bündel auf einer vertrauten Liege wiederfinde.


Henry sitzt mir gegenüber. Tränen laufen über sein Gesicht. Aus beiden Ärmeln seines Sweat-Shirts schauen statt Händen Langusten-Scheren. „Es tut mir leid, was ich dir alles angetan habe“, bringt er hervor. „Er hat mich das tun lassen. Ich wollte, dass du das weißt. Wir haben nur einen kurzen Moment, wenn seine Pause vorbei ist, kehren wir in das Bewusstsein zurück, das er für uns vorgesehen hat.“
„Ich verstehe nicht, Henry ...“
„Er formt uns und unsere Gedanken nach seinen Vorstellungen. Sieh mich an, ich bin Künstler. Stellst du dir so einen Künstler vor? Und nimm dich, warum steckst du in deiner Depression fest? Weil er es so will, weil er Lust dazu hat!“
Ich verreibe den Schleim auf meinen Armen, bis er schließlich einzieht. „Er implemetiert uns Gefühle und Gedanken? Wer oder was ist er, dass er meint, so mit uns umspringen zu können, etwa Gott?“
Henry packt eine Rolle Küchenpapier mit seinen Scheren und reicht sie mir rüber.
„Er kann das machen, weil er unser Autor ist und mit seinen Figuren tun kann, was er will, dieser Ruscheweyh!“
„Aber es muss doch eine Möglichkeit ...“, beginne ich.
Henry wischt sich vorsichtig mit dem unteren Scherenteil über das Gesicht. „Eine gibt es. Du kannst ihn selbst in eine Story hineinschreiben und ihn dadurch, dass du den Plot und die Prämisse bestimmst, dazu bringen, dich als Charakter mit deinen spezifischen Problemen in deinem Sinne zu ändern.“
„Warum hast du das nicht längst getan?“, fahre ich Henry an.
Er fuchtelt mit seinen rosafarbenen Scheren in der Luft herum: „Weil er vorgesorgt hat! Oder siehst du hier irgendwo Papier, außer dieser verfluchten Küchenrolle, die Kugelschreiber und Tinte verschwimmen lässt?“
„Meine Güte, Henry, sei doch mal ein bisschen kreativ!“ Ich ziehe sämtliche Schubladen aus den Führungen, durchwühle den Kassenbereich. Finde schließlich genau vierundzwanzig leere Skizzenblöcke, als ein allumfassendes Brummen den Raum erfüllt.
„Was ist das?“, rufe ich Henry zu.
„Er hat seinen Mac eingeschaltet!“, stöhnt er. „Es ist zu spät, er fängt gleich an zu schreiben.“
„Nein!“, schreie ich, „ich weigere mich, das zu akzeptieren.“
Ich reiße eine Bahn Tapete von der Wand, greife wahllos eine Flasche von Henrys Tätowierfarben, drücke einen großen Klecks Umbra heraus und beginne mit dem Finger zu schreiben.


Er sieht genauso aus, wie ich ihn in meiner improvisierten Story auf der Tapete beschrieben habe, als er durch die Tür von Henrys Studio tritt: ungefähr einsachtzig groß, wenig Haare, ausgelatschte Schuhe und ein überheblicher Blick. Ich packe ihn und drücke ihn gegen die Wand: „Mach das rückgängig!“, bedränge ich ihn, „Alles, verstehst du?“
„Hör zu, du komische Figur“, zischt er, „du verwechselt hier etwas. Ich bin ein vergangenheits-affiner Autor und habe die Story von dir und diesem Clown“ - er zeigt auf Henry, dessen Scheren mittlerweile einen üblen Geruch nach Hafenbecken verströmen – „im Imperfekt konzipiert. Außerhalb dieses Erzählstrangs bist du schon längst wieder Geschichte. Funito! Verstehst du?“
Ich überlege einen Moment, ehe ich beide Hände um seinen Hals lege. „Deine Argumentation hinkt!“, sage ich und drücke langsam aber bestimmt zu.
Ich kann die Panik in seinen Augen sehen, gleichzeitig verstummt das Summen des Macs.
Ein letztes „nicht möglich“ kommt über seine Lippen.
Sekunden später sackt er leblos zusammen.
„Das letzte Paradoxon bleibt immer ungelöst!“, flüstere ich und spucke auf seine Leiche.
Citra ist ebenfalls nackt und fühlt sich wunderbar warm an, als sie ihre Arme um meine Taille legt. „Schreib unsere Geschichte neu, Frank. Ich weiß, du kannst es!“ sagt sie und stößt den leblosen Ruscheweyh mit ihrer Fußspitze an. „Selamat jalan!“

V2

Letzte Aktualisierung: 25.02.2013 - 19.25 Uhr
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