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Lust(ig) | Februar 2013

Herr von Santhrop und die Narrenfreiheit
von Elmar Aweiawa

Er hatte sie noch nie leiden können. Die Narren! Solange Herr Michael Ignatius von Santhrop zurückdenken konnte, war ihm die Knopfdruckfröhlichkeit der etablierten Spaßvögel ein guter Grund gewesen, der Menschheit Reife für die Klapsmühle zu bescheinigen. Doch wenn er sie früher nur unausstehlich fand, seit diesem Jahr hasste er die Narren und ihre aufgesetzte Heiterkeit von ganzem Herzen.

Sein Haus in Mainz, das seine Eltern noch kurz vor ihrem Tod gekauft hatten, stand direkt neben dem Vereinsheim der Bretzenheimer Narrenzunft. Um den Umtrieben in der närrischen Zeit zu entgehen, flüchtete er seit Jahren an die Nordsee, wo er im immer gleichen Zimmer ausharrte, nur zu den Mahlzeiten in ein Restaurant ging und ansonsten in seinem geliebten Schopenhauer las.
Erst wenn die Jecken am Aschermittwoch die Segel strichen, wagte er sich wieder zurück. Wie oft hatte er schon verflucht, dass seine Eltern sich ausgerechnet dort ein Haus gekauft hatten. Sehnsüchtig dachte er an seine vorige Wohnung in Frankfurt-Niederrad mit dem Lärm der startenden Flugzeuge und den grau gestrichenen Wänden zurück.

In diesem Jahr jedoch ereilte ihn ein tragisches Unglück. Die Ferienwohnung war nicht mehr frei. So sehr Herr von Santhrop auch darauf bestand, bereits beim letztjährigen Aufenthalt für dieses Jahr gebucht zu haben, auf seine Rechte als Stammgast pochte und lebensnotwendige Gründe ins Feld führte, die Wohnung war bereits anderweitig vergeben. So biss er also in den sauren Apfel und blieb mit düsteren Vorahnungen zu Hause. Denn sich so kurzfristig mit einem anderen Domizil anzufreunden, war ihm nicht gegeben.

Ihn ließ die Vermutung nicht los, man habe seine Buchung mit voller Absicht storniert, um ihn zu ärgern. Dieses Verhalten ihm gegenüber passte perfekt in sein Weltbild, und dennoch, oder genau deswegen, erreichte sein Blutdruck bedenkliche Höhen. Das mag erklären, wieso er ganz entgegen seiner Selbsteinschätzung einen folgeschweren Fehler beging. Statt mittwochs, wie geplant, irrte er sich um einen Tag und ging erst am Donnerstag vor Fasching los, um sich vorsorglich bei seinem Feinkosthändler mit Nahrungsmitteln für eine ganze Woche einzudecken. Erst als er einigen wilden Weibern auf dem Heimweg in die Hände fiel, erkannte er seinen fatalen Irrtum.

„He Alterchen, du hast eine ulkige Verkleidung!“, begrüßte ihn eine halbnackte Amazone, zog ihn an sich und erstickte ihn fast zwischen ihren üppigen Brüsten. Sein Protestgeschrei verlor sich in ihrer Schlucht, zudem übertönte ihn der Lärm der mitgeführten Trommeln und Tröten. Eine zweite, als Marketenderin verkleidete Närrin, hakte sich bei ihm unter, und die beiden schleppten Herrn von Santhrop, der sich heftig wehrte, mit sich fort. Er hatte keine Chance, zu entkommen, denn rechts und links, sowie vor und hinter ihm tummelten sich euphorisch gestimmte Weiber.

Seine Einkäufe waren längst verloren gegangen, was Herrn von Santhrop angesichts der sonstigen Gefahrenlage relativ unwichtig erschien. Denn mit tödlichem Schrecken erkannte er, dass die Horde ihn zum Vereinsheim der Bretzenheimer Domspatzen, direkt neben seinem Haus, schleppte.
Im letzten Moment, bevor er diese Hölle betreten musste, gelang es ihm, sich mit beiden Armen am Türrahmen festzuhalten. Selbst mit vereinten Kräften schafften es die Närrinnen nicht, seinen Klammergriff zu lösen. Mit dem Mut der Verzweiflung krallte er sich fest und gab solch wüste Beschimpfungen von sich, dass den übermütigen Mädels das Helau in der Kehle stecken blieb. Also ließen sie von ihm ab, um ihren seltsamen Fang genauer in Augenschein zu nehmen, und just diesen Augenblick nutzte Michael Ignatius zur filmreifen Flucht. Ohne Rücksicht auf Verluste schubste er närrische Weiber zur Seite, drängte sich an bebenden Busen und nackten Schenkeln vorbei, rasselte mit einer Seeräuberbraut zusammen, dass er Sternchen vor den Augen sah, und schaffte es doch endlich, ziemlich ramponiert vor seiner Haustür zu landen.

Seine Seele war verwundet und mit hängenden Schultern schlich er deprimiert zu Bett. An Schlafen war nicht zu denken, denn der Lärm aus dem Vereinsheim zog sich bis in die Morgenstunden hin. Mit jeder Minute steigerte sich seine Wut auf die Narren, und als er völlig übernächtigt aufstand, genügte die einzelne Luftschlange, die er in seinem Garten fand, ihn vollends um den Verstand zu bringen.

Nur so ist es zu erklären, dass man Herrn von Santhrop den ganzen Tag über eifrig beschäftigt sah. Er hämmerte und pinselte, klopfte und sägte, als habe er seinen Beruf gewechselt und sei nun Tüftler geworden. Am späten Nachmittag verlegte er seine emsige Tätigkeit in den Garten, und am Abend standen dort vier riesengroße Plakate. In roter Schrift auf weißem Grund stand für jedermann im Schein der nahen Straßenlaterne zu lesen: NARRENFREIE ZONE.

Natürlich war das eine Provokation ersten Ranges, zumal hier in der Mainzer Hochburg und unmittelbar neben ihrem Vereinsheim. Eine kurzfristig einberufene Narren-Task-Force beschloss, die Plakate in der Nacht zu entfernen. Mit Sägen und Beilen bewaffnet machten sie sich auf, um Hausfriedensbruch zu begehen. Weit kamen sie allerdings nicht, denn als die ersten Verwegenen den hohen, oben mit einem Stacheldraht gesicherten Zaun zu überklettern versuchten, war Herr von Santhrop auf der Hut. Eben, als der Schnellste sich auf die andere Seite schwingen wollte und gewissermaßen auf der höchsten Stelle saß, schaltete er den Strom ein. Das Jaulen hörte man bis Mainz-Gonsenheim, und ein Leserbrief im Mainzer Anzeiger beklagte sich an einem der folgenden Tage über die Tierquälerei, die er am Gezeter eines geschundenen Wesens in dieser Nacht festmachte. Herrn von Santhrops dagegen bemächtigte sich eine gewisse Fröhlichkeit, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit.

Die nächste Attacke gegen ihn war noch stümperhafter, denn dem unerträglich lauten Faschingslärm, den die Narren mittels Lautsprecher gegen sein Haus richteten, begegnete er seinerseits mit ans Fenster gestellten Boxen, aus denen nicht weniger laute Digeridoo-Musik australischer Ureinwohner schallte und die Wirkung des Tschinderassa-Bumm zunichte machte. So war ihrem Widersacher offensichtlich nicht beizukommen!

„Wenn wir die Plakate schon nicht entfernen können, setzen wir doch auf Fernwirkung.“ Diesen Vorschlag unterbreitete einer der Narren in der nächsten nächtlichen Dringlichkeitssitzung.
„Prima Idee“, bekam er zu hören. „Aber was meinst du damit?“
„Farbbeutel! Die werfen wir auf die Plakate, dann wird die Schrift unleserlich und das Ärgernis ist beseitigt.“

Fast eine Viertelstunde ließ man den genialen und ideenreichen Narren hochleben, dann wurden Kuriere entsandt, welche die benötigten Utensilien besorgen sollten.
Mitten in der Nacht, nur beleuchtet vom sanften unschuldigen Mondschein, schlichen sich mehrere mit Farbbeuteln bewaffnete Narren zum Nachbarhaus und zielten auf die wegen ihrer Größe nicht zu verfehlenden Plakate. Herr von Santhrop, der sie mit seinem Nachtsichtgerät längst ausgemacht hatte, lachte sich ins Fäustchen, als er das Vorhaben durchschaute. Ungerührt beobachtete er die eifrigen Versuche, seine Plakate ihrer Nachricht zu berauben. Natürlich hatte er längst bei Anbruch der Dunkelheit und nach dem Verlöschen der Straßenlaterne die Rückseite der Tafeln nach außen gekehrt, sodass am nächsten Morgen die missliche Botschaft im alten Rot an gleicher Stelle prangte.

„Wir müssen härtere Geschütze auffahren!“, verkündete der Vorsitzende der Narrenzunft, denn am späten Nachmittag wurde der oberste Rat der Narrhallesen von Mainz erwartet. Wenn sie diesen Frevel im Nachbarhaus zu Gesicht bekamen, war es vorbei mit lustig. Das durfte unter keinen Umständen geschehen.
Eifrig wurde beraten, Pläne zur Untertunnelung des Nachbargrundstücks verworfen, ein Angriff mittels Hubschrauber als zu teuer abgetan, bis einer der Narren DEN genialen Plan offerierte.
„Wir berufen auf seinem Grundstück eine Facebookparty ein. So können wir, ohne uns die Finger schmutzig zu machen, aus sicherer Entfernung zuschauen, wie die Jugendlichen sein Grundstück verwüsten. Wir dagegen waschen unsere Hände in Unschuld.“

Viel Zeit blieb nicht, so dass die Hochrufe schon nach einer halben Stunde beendet wurden. Die Party wurde auf sechzehn Uhr anberaumt, eine Stunde bevor der hohe Narrenrat eintreffen sollte.
Schon lange vorher trafen erste Jugendliche ein, lümmelten vor Herrn von Santhrops Haus herum, wunderten sich, dass es eingezäunt war und einer Festung ähnelte. Mit jeder Minute wurden es mehr, und bereits nach einer halben Stunde, als der Platz vor seinem Haus eng wurde, kamen die Ersten auf die Idee, dass da ein klitzekleiner Fehler passiert war. Es musste sich um das Nachbargrundstück handeln. Dort war bereits ein reges Treiben, es gab Musik und jede Menge Bier und Wein. Denn natürlich hatten es sich die Bretzenheimer Narren nicht nehmen lassen, dem Herrn von Santhrop drohenden Debakel zuzuschauen. So saßen sie allesamt auf der Terrasse, von der aus sein Garten einzusehen war.
Wie eine Horde Heuschrecken ergoss sich die Masse der Jugendlichen zunächst auf die plötzlich überfüllte Terrasse, schwappte dann ins Haus hinein, drängte in den Keller und ins erste Stockwerk. Als die Ersten auf dem Dachfirst Platz fanden und sich lautstark zuprosteten, übermannte Herrn von Santhrop die Neugierde. Er wagte sich aus dem Haus, näherte sich dem Zaun und fragte einen der Nachzügler:
„Was ist denn dort drüben los?“
„Da findet eine Party statt. Stand in Facebook.“
„Aha, und wie war die Adresse?“ Der Geruch des Bratens kitzelte ihn bereits in der Nase.

„Oh ja“, schwärmte Herr Michael Ignatius von Santhrop, als er die Antwort vernahm. Er tanzte durch seinen Garten zwischen den vier Schildern herum und lachte: „Narrenfreiheit ist wahrlich ein schützenswertes Kulturgut!“

© aweiawa, 2013

Version 3

Letzte Aktualisierung: 24.02.2013 - 22.11 Uhr
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