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Lust(ig) | Februar 2013

Lustgefühle
von Wolf Awert

„Sag mal, Jonathan, träumst du nicht auch einmal davon, etwas zu tun, wo alle Welt Mund und Nase aufsperrt. So etwas richtig Verrücktes? Nein, Jonathan, ich meine nicht, eine Erdnuss in die Krallen zu nehmen und ihre Schale mit dem Schnabel aufzureißen. Ich meine, etwas ganz Außergewöhnliches.“

Der Zwergpapagei hörte nicht zu. Was gab es Wichtigeres, als auf eine Erdnuss einzuhacken?

Aber ich hatte Träume. Und ich wusste auch, dass das Leben immer wieder Gelegenheiten bot, sie zu erfüllen. Man brauchte nur wache Augen.

Ich erkannte meine Chance eines Tages, als ich meinen Einkaufswagen um eine große Pyramide aus Konservendosen herum steuerte und ich zum wiederholten Male fragte, was dieses Verkehrshindernis hier überhaupt zu suchen hatte. Denn es handelte sich nicht um eine kurzfristige Werbeaktion.

Über die Schulter warf ich einen bösen Blick zur Kasse, wo heute Morgen der Filialleiter höchstpersönlich aushalf. Samstags war immer viel Betrieb. Da kamen die Rentner, die zu üblichen Stunden keine Zeit hatten, trafen auf die Muttis, die das Wochenende vorbereiten wollten, und stritten sich mit den Berufstätigen, denen am Vorabend die Zeit zu knapp geworden war. Und mitten in diesem Gedränge von verkeilten Einkaufswagen und geschwungenen Tragetaschen sah ich Fräulein Krause.

Eine ganz entzückende ältere Dame mit weißen Haaren und einer rosafarbenen Strähne darin, die gut zu ihren Apfelbäckchen passte.

Auch wenn für alle Hunde galt: „Wir müssen draußen bleiben“, Fräulein Krause nahm ihre Mausi immer mit in den Supermarkt. Mausi war eine Chihuahua, blieb brav auf dem Arm hocken und tat so, als würde sie ihrem Frauchen ständig zuhören. Fräulein Krause störte es nicht, dass diese Art von Hunden sonst nur von jüngeren Damen einer bestimmten Berufssparte getragen wurde, denn Mausi war ja kein gewöhnlicher Hund.

Das war es. Mehr als diesen Anblick brauchte ich nicht. Jetzt drehten sich die Räder in meinem Kopf, dass es in meinen Ohren summte, und mein Herz pumpte das Blut mit der Kraft einer Dampfmaschine durch die Adern.

Ich würde alles wagen. Aber ich wusste auch, dass Geschwindigkeit und eine große Portion Glück über Erfolg oder Enttäuschung entscheiden würden.

Schon beinahe hektisch, ließ ich meinen Blick die Verkaufsregale erst entlang rennen, dann hin und her springen und fand doch nicht, was ich brauchte. Musste ich eben improvisieren. Also bückte ich mich unauffällig und zog mir die Schnürsenkel aus den Schuhen. Verstohlen und mit angehaltenem Atem blickte ich um mich, um mich zu vergewissern, dass ich keine Aufmerksamkeit erregte.

Mit Zuversicht, Selbstvertrauen und mit Hilfe meines Brillenbügels führte ich die zusammengebundenen Schnürsenkel um eine der Konservendosen herum. Ich knotete eine Schlinge. Als wäre nichts geschehen erledigte ich anschließend mit kurzen Schritten und in den Schuhen herumschwimmenden Füßen meinen ganz normalen Einkauf. Ich griff nach einem Glas Wiener. Den Einkaufswagen hatte ich zur Tarnung neben den Konservendosen stehen gelassen.

Mann, sahen die Würstchen lecker aus!

Ich konnte nicht widerstehen, öffnete das Glas, fingerte ein Würstchen heraus und biss herzhaft hinein. Wirklich lecker.

Ein zweites band ich an das freie Ende meiner Schnürsenkel und bewegte mich dann langsam in Richtung Kasse.

„Ich konnte nicht widerstehen“, sagte ich und hielt der Kassiererin das geöffnete Glas hin.

„Ist kein Problem“, antwortete sie, „solange ich das Glas noch einlesen kann.“

Ich warf meinen Einkauf einfach wieder in den Wagen und bewegte mich an eine Stelle, von der aus ich alles überblicken konnte. Dort sortierte ich umständlich die wenigen Teile, die ich gekauft hatte. Und endlich. Fräulein Krause näherte sich den Konserven. Mausi wand sich plötzlich in Frauchens Arm, begann zu kläffen, befreite sich aus dem altersschwachen Griff und sprang. Ich hielt den Atem an und jubilierte.

Doch Mausi kam nicht weit. Ihr Sprung reichte nur bis in den noch leeren Einkaufswagen, wo sie mit einem Bein zwischen die Drähte geriet und zunächst einmal um ihre Freiheit strampelte. Fräulein Krause griff zu. Dieses Mal fest.

Mausi und ich hatten wahrscheinlich den gleichen Gesichtsausdruck. Eine Mischung aus Enttäuschung und Verbitterung. Und dann mussten wir uns auch noch eine süßliche Strafpredigt anhören.

„Was hast du denn heute Morgen, mein Schatz? Bist doch sonst nicht so echauffiert.“
Und dann zu den Leuten um sie herum:
„Ich weiß wirklich nicht, was meine Mausi heute hat.“

Fräulein Krause blickte nur in verständnisvolle Gesichter. In meine Richtung schaute sie nicht.

Verdammter Mist, dachte ich und drehte mich resigniert in Richtung Ausgang, als mich ein empörter Ruf noch einmal innehalten ließ.

„Was ist das denn hier für eine Sauerei. Jetzt liegen hier schon Lebensmittel mitten auf der Erde, und ich bin prompt reingetreten. Da kann man ausrutschen, kann man da, und sich alle Knochen brechen. Will das hier nicht mal endlich einer wegmachen?“

Ich kannte den hochrotköpfigen Mittfünfziger nicht, der da so lauthals schimpfte. Er beruhigte sich erst, als eine Angestellte ihm mit Aufnehmer und Kehrblech zur Hilfe eilte. Die Reste des zertretenen Würstchens landeten in einem Plastiksack und der Aufnehmer fuhr einmal über den Boden.

„So“, sagte die Angestellte, „schon fertig. Schaden behoben.“

Na ja, war nicht mein Tag. Ich ging in Richtung Ausgang und sah nur aus den Augenwinkeln, wie das Mädchen sich noch einmal bückte.

Das Prasseln der Konservendosen war mein schönster Applaus. Als es vorüber war und auch die ersten Entsetzensschreie einer Fassungslosigkeit gewichen waren, rollte noch eine einzelne Dose über den Boden. Es gibt kein Geräusch auf der Welt, das dem einer rollenden Konservendose gleicht.

Der Drang, stehen zu bleiben, mich umzudrehen und zu verbeugen, war beinahe übermächtig. Aber es gelang mir, den Laden so schnell zu verlassen, wie meine haltlosen Füße es zuließen.

Draußen starrte ich auf eine weiße Häuserwand!

Wenn man es schaffte, überlegte ich, oben an die Häuserwand kleine Kristalle aus Kaliumpermanganat zu werfen und dafür zu sorgen, dass sie kleben blieben, dann brauchte man nur auf den nächsten Regen zu warten, und blutrote Streifen würden die Fassade herunterlaufen. Aber das war nicht so einfach. Das musste gründlich geplant werden. Und bei diesem Gedanken lief mir ein wohlig kitzelnder Schauer den Rücken hinunter.

Version 3

Letzte Aktualisierung: 21.02.2013 - 23.28 Uhr
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