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Selbst gemacht | März 2013
Die U-Bahn fährt oberirdisch weiter
von Jochen Ruscheweyh

In einiger Entfernung erkenne ich das blaue Schild mit dem „U“ darauf.
Nur noch wenige Meter!
Warum habe ich diesen Typen bloß so penetrant angestarrt?

Ich habe eigentlich schon aufgrund meines Berufs als Sozialpädagoge ein gutes Gespür dafür, wie lange ich jemanden anschauen kann, ohne dass es aufdringlich oder unangemessen wirkt. Und mein Verstand hat mir vorhin auch signalisiert: Weggucken!
Warum habe ich diese Meldung ignoriert?

Ich bin außer Atem, es brennt in der Lunge, obwohl ich nur etwas schneller gegangen bin. Ich dränge mich an Leuten vorbei. Das ist total verrückt, es ist früher Abend, nicht einmal richtig dunkel.
Aber angenommen, er greift mich an, würde mir dann jemand helfen?
Ich spüre meinen Puls hinter den Schläfen, drehe mich noch einmal um, bevor ich die Treppen hinunterhaste. Und sehe ihn hinterherkommen in seiner braunen G-Star Jacke.

Mein Denken ist blockiert. Mein Blick hetzt über die Beschilderung. Ich kenne mich noch nicht so gut in Dortmund aus. Eigentlich sind wir hauptsächlich wegen Sarahs Job hierher gezogen. Sie kann jetzt zu Fuß zur Arbeit gehen, ich pendele weiter, nur eben seit drei Wochen in eine andere Richtung.
Wenn ich in die richtige Bahn steige und er mich weiter verfolgt, weiß er, wo wir wohnen. Aber wohin fahren die anderen Züge?
Ich könnte die Polizei rufen. Aber bis ich verbunden bin, hat er mir vielleicht schon das Handy abgenommen und türmt mit unserer Adresse und sämtlichen Daten unserer Freunde.
Warum habe ich Idiot diese ganzen Informationen gespeichert?
Ich muss es ausschalten. Aber dann kann ich erst wieder telefonieren, wenn ich das Passwort zu Hause gefunden habe. Wer rechnet schon mit sowas?
Ich sehe eine Gruppe von Leuten. Sie nehmen die Rolltreppen runter zu den Gleisen. Gruppen sind gut. Er wird nichts riskieren, weil Gruppen zusammenhalten. Und sie sind gute Zeugen. Ich habe keine Ahnung, wo Fredenbaum liegt, aber es wird auf jeden Fall eine Bahn zurück geben. Ich muss hinter ihnen her!

Unten am Bahnsteig stehen nur vereinzelt Leute. Und die Fünfer-Gruppe, die vor mir die Rolltreppe genommen hat. Zwei Jungs und drei junge Frauen, sie sehen irgendwie so alternativ aus wie ich vor dreißig Jahren, nur dass wir andere Turnschuhe hatten.
Gleichzeitig fährt die Bahn ein.
Ich schwitze unter den Armen und an der Stirn. Ein letzter Blick über die Schulter, ich sehe ihn nicht. Vielleicht hat er es sich anders überlegt, vielleicht bin ich ihm gar nicht mehr wichtig genug. Ich hab ihn doch nur angeguckt. Sonst weiter nichts!

Die jungen Leute verteilen sich auf zwei Vierer-Plätze. Ich lasse mich direkt dahinter auf einen Sitz fallen.
Die Türen schließen sich.
Gerettet. Oder zumindest in Sicherheit.
Eine der jungen Frauen, in die ich mich als Halbwüchsiger sicher direkt verliebt hätte, schaut mich mit einer Mischung aus Mitleid und Angewidertsein an, als ich mir den Schweiß von der Glatze wische. Ich lächele und zucke mit den Schultern.
52, Beamter und nicht im Training. Was will man da erwarten?
Sie guckt weg.
Ich versuche meine Atmung unter Kontrolle zu bringen.

Die U-Bahn fährt jetzt oberirdisch weiter.
Ich merke, wie ich langsam ruhiger werde. Aber wieso kann mich eine kurze Begegnung so aus dem Konzept bringen? Ich habe eine Frau, die mich liebt, einen Job, den ich gerne mache und ein soziales Netzwerk um mich, das mich jederzeit auffangen würde.
Ich habe mir selbst Stress gemacht, statt die Sache zu Ende zu denken. Wir leben hier schließlich in NRW und nicht in Mexiko City.

An einer Haltestelle mit dem Namen Klinikzentrum steigt die Gruppe aus. Weiter vorne sitzen noch eine ältere Frau und ein Mann in einem 70er-Jahre Anzug, vermutlich türkischer Herkunft.
Die Türen sind noch freigegeben.
Als ich mich umdrehe, sehe ich die braune Jacke, sehe ich ihn kommen, den Türöffner drücken. Er war die ganze Zeit im zweiten Wagen hinter mir und hat nur darauf gewartet umzusteigen!

Er setzt sich schräg vor mich, zwei Vierer-Plätze weiter.
Ich muss ihn jetzt angucken, um mich nicht selbst in die Opferrolle zu drängen. Aber ich habe Angst, eine Scheißangst, deswegen schaue ich auf den Boden.

Während des Studiums habe ich mal einen Deeskalationskurs belegt. Ich erinnere mich schwach. Kommunikation nur dann, wenn man das Gefühl hat, dass der andere auch kommunikationsfähig ist. Sonst besser Flucht.
Mein Jugendfreund Mario hat früher immer diese Horrorgeschichten erzählt, über diese ... diese Ruhrpott-Legion. Dass die Jungs so gefährlich wären, weil denen alles egal wäre, weil sie nichts zu verlieren hätten. Und dass er mal gesehen hätte, wie einer von denen solange mit der Faust gegen eine Mauer geschlagen hätte, bis sie gebrochen gewesen wäre.
Ich bin auch in keiner einfachen Gegend aufgewachsen, aber wenn man als Einzelkind mit vier Großfamilien in einem Haus wohnt, passen die halt auf einen auf. Deswegen hat sich nie jemand getraut, mich zu verprügeln.

Ich schiebe meine Hände unter die Oberschenkel, damit er nicht sieht, dass sie zittern.

Selbst wenn ich bei der nächsten Gelegenheit aussteige, wenn er mich überhaupt lässt, wird er mir folgen, mich vielleicht niederschlagen und in mich hineintreten, wenn ich am Boden liege.
Oder was diese Straßenbanden in Amerika Bordsteinknabbern nennen: zusammenschlagen, mit dem geöffneten Kiefer auf die Steinkante legen und auf den Kopf treten.
Bilder von blau geschwollen Gesichtern und Kiefern mit Drahtgestellen springen mich an, Zeitungsartikel dazu, die man nicht liest, weil so etwas nur anderen passiert.

Aus dem Augenwinkel sehe ich ihn aufstehen, er spreizt die Arme, greift oben an die Haltestangen links und rechts, fängt an, hin- und herzuschwingen und deutet dabei Karatetritte in meine Richtung an.
Ich habe das Gefühl, ohnmächtig zu werden.
Ich bin niemand, der Schmerzen gut aushalten kann.
Es wird wehtun, das weiß ich.
Er wird mir wehtun.

Keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn einem das Nasenbein gebrochen wird, wie eine Lippe aufplatzt, wie viel Schläge es braucht, bis ein Zahn nachgibt und sich die Wurzel aus dem Kiefer löst, ob ich nach einem Tritt in den Magen noch atmen, mich nach einem Nierentreffer überhaupt noch bewegen kann?
Ich denke an das Selbstverteidigungstraining, von dem Sarah so oft gesprochen hat und wie ich es abgeblockt habe: Wenn’s dich erwischen soll, erwischt es dich ... . Ihre Bitte, mir Reizgas einzustecken. Ich habe alles ignoriert.
Und jetzt befinde ich mich in dieser Situation, weil ich einen Augenblick so dumm gewesen bin, den Falschen anzustarren. Es ist meine eigene Schuld.
So sinnlos. Wenn wir wenigstens Hooligans verfeindeter Lager wären oder ich Nazi und er Autonomer.
Ich habe panische Angst, dass mich dieser Typ zum Pflegefall prügelt, mich so entstellt, dass Sarah mich nicht mehr lieben kann, ich mein Leben, wie ich es kenne, verliere.

Er kommt näher und setzt sich so auf den Vierer der anderen Seite, dass seine Beine in den Gang ragen und nur ein halber Meter zwischen uns liegt. Ich kann ihn riechen. Der penetrante Gestank nach Energy-Drink. Er schiebt seine Hände fächerartig ineinander und lässt die Fingergelenke knacken.
Die Bahn hält. Der ausländisch aussehende Mann und die alte Frau steigen aus.
Ich – beinahe selbst alt, unsportlich und Brillenträger – das perfekte Opfer.
Wenn ich genug Mut hätte, würde ich als Erster zuschlagen. Meine Hand umklammert den Schlüsselbund in meiner Jackentasche. Ich schiebe einen der BKS-Bärte zwischen Mittel- und Ringfinger und balle die Faust.

Ich kann das nicht tun. Was würde das für ein Gefühl sein, wenn mein Schlüssel durch seine Wange dringen oder sein Auge zerstören würde? Könnte ich das irgendwann einmal vergessen? Und wenn ich nicht treffe, wenn er meinen Schlag abwehrt, würde ihn das nicht noch wütender machen?

Er tritt gegen meinen Fuß.
Erst leicht, dann fester.
Mir wird schwindelig, es rauscht in beiden Ohren.
Ich glaube, ich muss mich übergeben.
Ein weiterer Tritt gegen meinen Fuß.
Ich habe nichts gegessen, saurer Magensaft schießt mir den Hals hoch in die Nase.
Ich muss husten.
Ein leichter Schlag von der Seite gegen meinen Hinterkopf.
Ich verschlucke mich an dem Gemisch in meinem Mund.
Ein weiterer Schlag gegen meinen Hinterkopf.
Meine Augen tränen.
Durch den Schleier erkenne ich diesen roten Knopf an einer Haltestange gegenüber.
Ich muss ihn drücken.
Notruf.
Er hat angefangen und er wird nicht aufhören.

Der nächste Schlag, diesmal auf's Ohr, hinterlässt einen Orkan aus Pfeifen, Klingeln und Dröhnen. Ich bin nicht wie diese Helden in Filmen, die unter ihren Nehmerqualitäten ganz ruhig werden und ihren Gegenangriff vorbereiten.
Ich sehe auch nicht mein Leben an mir vorüberziehen; selbst wenn es ziehen würde, könnte ich es nicht sehen, ich sitze fest in diesem Käfig.
Gefängnis.
Was geschieht, spielt sich auf vier Quadratmetern ab.

Es wird feucht unter mir.
Ich muss den Notknopf erreichen.

Seine Faust gegen mein Kinn.
Ich schmecke Blut.
Durch die Erschütterung ist ein Nackenwirbel herausgesprungen, schon immer eine meiner Schwachstellen.
Ich muss mich schützen, halte die Hände vor mein Gesicht.
Dann trifft es meine Rippe, so heftig, dass ich meine Hände nicht oben lassen kann.
Blut tropft auf meine Oberschenkel.
Ich heule wie ein kleines Kind.
Kann mich nicht mehr aufrecht halten, rutsche vom Sitz, schlage mit dem Kopf irgendwo an.
Ich kauere mich zusammen.
Mache mich so klein wie möglich.

Ich kann die Augen nur ein Stück öffnen, ein klebriger Film über den Lidern. Über meinen Arm hinweg beobachte ich, wie er die Haltewunschtaste drückt.
Die Bahn hält.
Ich sehe ihn aussteigen.
„Du mieses Schwein!“, schreie ich ihm hinterher. Heraus kommt ein unverständlicher Brei wie durch mehrere Lagen Tamponaden gedämpft.

Er dreht sich nicht um.

V2

Letzte Aktualisierung: 26.03.2013 - 22.42 Uhr
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