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Selbst gemacht | März 2013

Stiefmütterchen
von Glädja Skriva

Er war ein Baum von einem Kerl. Seine Pratzen ruhten auf den kleinen, leuchtenden Stiefmütterchen, die ihre ersten Köpfchen vorsichtig in die Frühlingsluft reckten. In Dunkelviolett, tiefem, samtenen Burgunderrot und dazwischen einem unschuldigen Weiß. Er schnaufte ein wenig, wenn er sich damit zu seiner Erna hinunterbückte, die da unten seit vergangenem Winter in der feuchten, kalten Erde ruhte.

Dann griff er zu seiner Harke und bildete damit Rillen. Rille für Rille für Rille. Dabei machte er sich keine Gedanken. Weder darum, warum dies alles so hatte kommen müssen. Noch, warum er ein treuer und fürsorglicher Ehemann gewesen war. Er war es eben gewesen. Genauso, wie er immer die Stiefmütterchen nur von diesem einen Gärtner holte. Und hätte man ihn nach dem Grund gefragt. Er hätte keine Antwort gewusst. Auf diese Liebe.

Doch an diesem Morgen sollte alles anders werden, als er nach seinem grauen Cordhut griff und bedächtig, wie es seine Art war, einer älteren Frau zunickte, die, drei Gräber weiter auf den Knien durch die Narzissen, vorbei an dem ewigen Licht und den blauen Hyazinthen, zu ihrem Helmut, Gott habe ihn selig, rutschte. Ein untypischer, schwerer Duft, nein, nicht nach Kölnischwasser, eher nach ... den aufbrechenden Hyazinthen, legte sich über die aufgehäufelte Erde. Er schnupperte, nur kurz, und bemerkte dann ihre Erwiderung. Noch leicht benommen trudelten seine Hände ein wenig fahrig durch die Luft, bis sie erneut Halt an seinem abgewetzten Hut fanden. Er nickte nochmals und stakste schließlich, ihr zugewandt, herum: „Ähm, schönes Wetter heute, nicht wahr? Endlich Frühling. Endlich kann man auch ...“, er deutete auf die Stiefmütterchen ..., „wieder etwas aufs Grab setzen. Ach so, ja, Entschuldigung. Ich vergaß. Gestatten: Gruber. Willibald Gruber.“ Für einen Augenblick überraschte es ihn, dass eben „Willibald“ aus seinem Mund getropft war, da ihn alle Welt doch „Willi“ nannte. Außer Mutter, die hatte immer „Willibald“ zu ihm gesagt, wenn sie ihm sanft über den Kopf gestrichen und dabei zärtlich und stolz gesprochen hatte: „Mein Willibald, mein guter Junge.“ Er räusperte sich. Seine Stimme war seltsam belegt und, nach Worte suchend, fuhr er fort: „Aber unsere, ähm, meine Freunde ... ich meine ... weil doch Erna ...“ Er seufzte schwer: „Also, eigentlich nennen mich alle „Willi“. Gerne können Sie auch ...“ Er stockte und schien das zweite Mal an diesem Morgen seine Richtung zu verlieren. Seine Hände ruderten erneut und von weitem sah es so aus, als wolle er mit einer unbeholfenen Geste die zerbrechliche Taille dieses zierlichen Persönchens kurz berühren. Was jedoch bestimmt eine Sinnestäuschung war. Schließlich fing die ältere Dame seine Verunsicherung mit dem Anflug eines Lächelns auf, das so zart war wie sie selbst. „Gruber?“, fragte sie freundlich nach. „Ach, wie schön. Ich heiße auch Gruber. Lina Gruber. Dann sind wir ja sozusagen Seelenverwandte“. Willi, dem das Wort Seelenverwandte ein Fremdwort und ähnlich exotisch war wie Stiefmütterchen mitten in der Wüste, nickte und strahlte: „Dann sind wir wohl namensverwandt.“ Ein kleines Lächeln huschte über Linas Augen: „Ja, seelen- und namensverwandt. Ich meine, wegen der Stiefmütterchen. Sie mögen sie auch, nicht wahr?“ Oh ja, er liebte Stiefmütterchen und dieses Mal war er sich dessen ganz sicher, wenn er auf Linas weißes Spitzenblüschen sah, das sich in gestärktem Weiß unschuldig hob und senkte. Er liebte Stiefmütterchen genauso, wie er den Frühling liebte mit seinen kleinen, aufbrechenden Knöspchen.

Der Sommer kam. Die Stiefmütterchen wurden abgelöst durch bunte Phlox und wogend gelbe Sonnenbraut. Die Abende waren lang und lau und würzig und auf dem Friedhof alle Bänkchen besetzt mit munter schwatzenden Senioren und Seniorinnen, die mit schweren Gießkannen über die ehemaligen Gattinnen und Gatten gegangen waren, um sie noch einmal zum Erblühen zu bringen. Auch Lina und Willi konnte man dort treffen. Er so, wie man ihn sonst nie kannte, mutig um ihre schmale Taille die große Hand gelegt, welche manchmal wie zufällig auch tiefer rutschte. „Und das zu gerne“, wäre seine atemlose Antwort mit leicht gerötetem Gesicht gewesen, hätte man ihn vorsichtig danach gefragt. Vertraut waren sie miteinander geworden, seit sie zusammenwohnten. Er und sein Linchen, seine gute Seele. Was wäre er nur ohne sie?

Hin und wieder gesellte sich auch Franz zu ihnen auf das Bänkchen. Dieser war ein ehemaliger Kollege von Willi und beide Männer trafen sich manchmal an heißen Tagen abends bei „Hein“, gleich um die Ecke. Auf ein kühles Blondes. Manchmal auch zwei. Doch selten mehr, da Willi gerne nach Hause ging. Zu seinem Linchen, seiner Frau.

Bis der Herbst kam und alles verging. Die munteren Plaudereien, die Männerabende und lauen Nächte. Willi steckte inzwischen liebevoll ummantelt in einem warmen Fußsack. Linchen hatte ihn in weiches Lammfell eingepackt. Schließlich sollte nichts ihren Liebsten beschweren, nicht einmal die kleinste Kante seines Rollstuhls. Zärtlich strich sie ihm über sein Haupthaar, wenn sie vor seiner Erna standen und flüsterte leise: „Mein lieber Willibald. Mein Guter. Du bist ja so tapfer.“ Wenn sich dabei ein Tränchen in seine Augen schlich, zeigte sie viel Feingefühl und schaute taktvoll weg, zu Helmuts Grab, ihres Ersten, um ihn dann vorsichtig hoppelnd daran vorbeizuschieben. „Wie bin ich froh, mein Schatz, dass es dir nicht erging, wie ...“ Ihre Stimme erstarb dabei wie ein kleines Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war, und sie zupfte besorgt die selbstgehäkelte Decke über seinen Beinen zurecht, deren Schenkel inzwischen mager und kraftlos geworden waren. Nur Franz, der treue Freund, gesellte sich noch hin und wieder zu ihnen und brachte unbeschwerte Stimmung mit. Dann klopfte er Willi kräftig auf die schmal gewordene Schulter und dröhnte: „Na, Willi, mal wieder Lust auf eine kühle Blonde?“
„Aber ihr könnt doch auch zu uns“, zwitscherte Lina dann meist dazwischen. „Ich mache euch gerne ein paar Stullen.“ Und ihr Ton war dabei so fürsorglich und wärmend wie die selbstgehäkelte Decke aus lauter kleinen, klopfenden, roten Fleckerlherzen.

Der Winter kam. Erst einer, dann der nächste. Franz lockerte inzwischen das Grab seiner Elsbeth, die er so vermisste. Nur, wenn er Lina sah mit Willi in dem Rollstuhl, musste er gerade dringend zum Grünabfallplatz oder die Gießkanne zum Friedhofsgärtner bringen, die er bereits zu lange entliehen hatte. Er konnte es nicht ertragen, wenn Willi nach ihm rief und er ihn fragte, ob er nicht zu ihnen kommen wolle zu den selbstgeschmierten Broten, der schönen warmen Heizung und dem Memory-Kartenspiel. Zur Gedächtnisschulung. Seit er die Blumennamen immer öfter verwechselte, genauso wie die Farben und die Namen seiner Frauen. Aber Linchen zeigte sich verständnisvoll und geduldig. „Wir spielen nur die Spiele, die d u willst“, seufzte sie leise und kniete sich dabei neben seinen Rollstuhl wie eine fürsorgliche Mutter, die den Anorak ihres Kleinen schließen wollte. „Mein guter Willibald. Recht so?“ Sie stopfte dabei seine Hände, die kurz verwirrt gewagt hatten, eine Antwort in der Luft zu suchen, mit in den Fellfußsack und zurrte ihn zu, bis er nickte und seine Augen schloss, nicht mehr an ihrer Brust, so doch an ihren Bauch gelehnt. „Ja, Linchen“, hauchte er.

Inzwischen hatte er alle Antworten gefunden. In ihr. Er konnte „seelenverwandt“ genauso buchstabieren wie die Biersorten auf den selbstgeschriebenen Memorykärtchen. Immer zwei identisch in der Zahl. Und so wusste er jetzt auch, wie gut es ihm tat, wenn er sich mit seinem Linchen darüber in das Gespräch vertiefte, wie blond, wie braun, wie schaumig hell ein kühles Blondes war. Auf dem Papier.

Den Winter darauf starb Willi und seine Seele ging. Wer weiß es schon, wohin?

Lina grub feine Rillen auf den beiden Gräbern. Bei ihrem ersten, bei ihrem zweiten Mann. Nicht weit entfernt hackte ein kleiner Mann in feinem Nadelzwirn die Buschröschen seiner geliebten Frau. Gott habe sie selig. Als beim Schneiden sich ein Dorn in seinen weichen Bürokratendaumen trieb und dunkles Blut dick auf den weißen Marmorgrabstein tropfte. Ein feines Spitzentaschentüchlein wurde ihm von hinten dargereicht mit den Worten: „Nicht, dass es tropft auf diesen wunderschönen Engelsmarmor. Oh, Lina hieß ihre Frau? Welch ein Zufall. Erlauben Sie, dass ich Sie verbinde?“ Und der gezwirnte Herr nickte, wenn auch zunächst verwirrt, so doch sehr angetan.


© P.S./Glädja Skriva/März 2013/3. Version

Letzte Aktualisierung: 26.03.2013 - 22.44 Uhr
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