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Selbst gemacht | März 2013

Kakophonia
von Asla Kant

Am schlimmsten ist es, wenn mir Schlaf fehlt.

Wenn mir Menschen zu nahe kommen.

Wenn ich es aufschiebe, zu lange warte, Kontrolle zur Verbissenheit wird und das Gegenteil bewirkt.

Ich habe verstanden, dass es zu mir gehört.

Denken, nicht sprechen: Ketten, Kerzen, weiß, schwarze Scheiße, weiß, schrei Scheiße!

Das Ticken einer Uhr brennt wie Feuer in meinem Kopf. Ich liege im Bett und kann nicht schlafen. Es ist noch dunkel, als der homophone Tagesablauf beginnt:
Das Echo der Toilettenspülung aus zwei Badezimmern. Die Dusche, die Spülmaschine, tropfendes, gurgelndes, strömendes, reißendes Wasser.
Warum ich Angst habe, fortgespült zu werden und zu ertrinken, ich weiß es nicht.
Das Geschrei meiner Brüder, die sich am liebsten morgens in ihren Betten prügeln. Warum ich Angst habe, erschlagen zu werden, ich begreife es nicht.
Die Kaffeemühle in der Küche und der Staubsauger, der meine Zimmertür bedrängt. Warum ich Angst habe, in kleinste Teile zu zerfallen und zu verschwinden, mir erklärt es niemand.

Ein akustischer Vollrausch, der Krieg gegen meinen Verstand führt.

Ich höre meine Mutter: „Seid gefälligst leise, Yve braucht ihren Schlaf.“
Leider zu spät.
Es hilft nichts mehr. Ich bin allein mit dem, was passiert.
Meine Hände schießen gegen meinen Kopf. Schlagen gegen Wände, trommeln auf mein Gesicht ein, reißen Haarbüschel heraus, bis sich ein roter Schleier über meine Augen legt.

Jemand schreit und spuckt und beißt und flucht.
Ein Meer aus Fäkalien strömt aus einem Mund. Auch das bin ich. Trotzdem verstehe ich nicht, dass alles so weit entfernt ist, ich mich von außen betrachte und es nicht selbst erlebe, und trotzdem sicher bin: das bin ich. Dieser Zustand erreicht seinen Höhepunkt in einem Gefühl der Zufriedenheit und der Idee, dass dies so und nicht anders sein soll.

Lasst meine Hände sprechen, Schlag auf Schlag, während meine Worte tanzen: „Kratzende Fratzen bestechen mit Lanzen euren Melodiebogen. Mein Krieg wird zu deinem, wenn ich nicht sein darf.“

Nach einer Odyssee durch die Psychoanalyse, nach mehreren Klinikaufenthalten und Zwangsbehandlungen, die allesamt gescheitert sind, habe ich Gewissheit: Tourette-Syndrom.

Was mir hilft, will ich selbst erforschen, und ich bin mittendrin.

Eine Ãœberdosis Haloperidol, die ich mir in der Umkleidekabine nach dem Sport gebe, bringt mich erneut in die Notaufnahme. Und trotzdem will ich das College meistern. Ich will es einfach.
Der zuständige Arzt heißt Fred und er besteht darauf, dass wir uns duzen.
Meine Tics lassen ihn völlig kalt. Eine medikamentöse Behandlung schließt er in meinem Fall aus, hält sie sogar für kontraproduktiv, was mich aus dem Konzept bringt, im Nachhinein aber beruhigt.

Was anderen bisher nicht möglich war, bringt er in wenigen Stunden zustande: eine Vertrauensbasis zu schaffen, eine gemeinsame Symphonie, die nachklingt und Platz braucht wie ein Echo.
Als ich trotzdem darauf bestehe, entlassen zu werden, lacht Fred und sagt: „Aber nur unter einer Bedingung. Du kommst zwei Mal in der Woche in meine Selbsthilfegruppe. Keine Sorge, die ersten drei Monate sind wir unter uns, eine Testfahrt sozusagen. Einverstanden?“
Begeistert bin ich nicht, aber was bleibt mir anderes übrig. Mein Einverständnis, nicht rund, nicht voll akzeptiert, kommt über einen Tic, aber es kommt: „Deal! Scheiß Deal, Fotzenfratzen, ja, nein, ja, Scheißen-Deal-Okay!“

Zuhause ein weiterer Überfall, eine nächste Überraschung, die mir einen Glückstic nach dem anderen beschert. Sogar meine Mutter bleibt entspannt.
Mein Vater und meine Brüder nehmen mich so wie ich bin. Sie haben weder Berührungsängste noch Schwierigkeiten mit einem Touretti in der Familie. Auch draußen nicht. Und selbst dann nicht, wenn eine Hand in meiner Hose steckt, ich vergesse, dass ich existiere, Hände im Schritt parken, kraulen, kitzeln, Ruhe und Frieden finden oder kratzen wollen.
Kein Wunder, dass mir die Männer besonders nahe stehen.
Papa nimmt die Hand, die ständig sucht, nicht stillhalten will, kein Problem. Er zieht mir eine Mütze übers Gesicht. Selbstverständlich will das die andere Hand nicht. Klasse, meine Mutter ist schneller als ich.
So ticen und rudern wir alle zusammen in den Keller.
Das fühlt sich gut an!

Am Geruch und am Schall unserer Stimmen erkenne ich, dass sich vieles verändert hat.
„Mütze, nee schwarz! Hilfe! Loslassen, Kackearsch, vielen, Stierkrach, keiner weiß! Danke, Mütze weg, loslassen!“, schreie ich, doch das, was ich dann sehe, macht mich ganz still.

Aufgeregt und doch entspannt laufe ich durch den ausgebauten Keller.
Wir haben schon einmal über einen Schonraum gesprochen. Allein der Begriff geht mir quer, bringt Schübe, die nicht enden wollen. Auf meinem Wunschzettel an meine Familie, der seit Monaten an der Pinnwand klebt, steht in fetten Druckbuchstaben: Ich will einen Kampfraum, brauche mehr Platz für mich allein. Ihr dürft nicht alles sehen. Bitte schenkt mir einen Spielplatz, ein Reich der Stille, ein Krach- und Musikzimmer, ein Feld, wo ich leben, mich verstecken, mich entdecken und scheitern darf.
BITTE, TUT DAS FÃœR MICH!

Und sie haben es getan, tun es jetzt und das ist unglaublich schön!

Dieses verdammte Glücksrad überschlägt sich in mir!
Ich renne. Habe Platz und renne. Trete gegen gepolsterte Steine. Ich trete so fest ich kann und mache nichts kaputt.

Fallen und weich landen.

Wenn ich ein Hund wäre, würde ich in jede Ecke pinkeln, aber so spucke ich, ziehe Speichelfäden von der Klaviatur bis zur Mundharmonika, und auch das ist richtig.

Sie haben Musikinstrumente, Sand und Lehm, Matten, viel Papier, Spachtelwerkzeug, Tinte und Fingerfarben hinterlassen.
Für mich!
Und ich bin so glücklich, dass ich nicht aufhören kann zu schreien, zu ticen.
„Um Gottes Willen, helft ihr doch, ruft einen Krankenwagen!“, brüllt meine Mutter, die nicht versteht, dass alles gut ist.
„Mutti, Yve freut sich den Arsch blau, kapier das doch endlich!“, stellt Frank, der älteste der Jungs klar.
Papa nimmt Mama in den Arm und schiebt sie die Treppe hinauf. Endlich!

Nun bin ich mit meinen vier Brüdern, dem riesengroßen Keller und einem extra für mich eingerichteten ebenerdigen Wannenduschbad mit Fenster allein.

„Dreck, anders das ist, ihr seid liebe Kanten, Scheißfotzen, so gut, helft mir, Brüder, was, warum, weiß nicht weiß, wer, das hat, ich und danke sagen, Scheiße, verfickte Scheiße, schwarze! Wird so weiß!“

Andrew, der Jüngste und Frechste, nimmt mich in den Arm und schafft es, mich zu halten.
„Alter, riechst du lecker, warum habt ihr das gemacht, wie soll ich danke machen und sagen dafür!“, kommt wie so häufig kakophonisch über meine Lippen. Er drückt mich und legt mir ein Band mit einem kugelförmigen Instrument um den Hals.
„Alles wird gut, Yve. Du pustest mit Schmackes in diese Flöte, wenn dir danach ist, egal wie sich das anhört, und fertig!“
Er küsst mich, lässt mich los und allein.

Alle anderen haben sich zwischenzeitlich ohne Worte von mir verabschiedet.

Allein ich bin!

Und nun ist es an der Zeit, meine Möglichkeiten zu erkennen und zu entdecken.

Kein Tic, kein Stottern. Weder Gestammel noch brennendes Jucken im Schritt. Ich lege meine Hände auf Tasten und spiele mit ihnen. Rauf, runter, rauf Tonleitern.
Ich zupfe an Saiten mehrerer Gitarren, einer Zitter, einer Harfe, eines Cellos, als wenn ich mich selbst stimmen wollte.

Zärtlich diesmal.

Wo habt ihr die Musika gefunden, was muss ich euch wert sein, dass ihr mir das ermöglicht?, fragt mein Kopf. Und ich erwarte keine Antwort, weil das niemand beantworten kann.

Eine Altflöte, die einsam in der Ecke schmachtet, schielt mich an.
„Anfassen!“
Versprechen und hineinpusten.
Nicht schön, nicht perfekt, nicht so, wie es andere tun würden, aber mit Zuneigung, Kraft und Liebe.
„Ich will dich!“, sage ich ihr ohne Tic und schlafe mit ihr und allem anderen um mich herum da ein, wo ich liege.


Seitdem ich diesen Platz für mich allein in Anspruch nehmen darf, bin ich unauffällig im Außen.

Während meiner nächsten Sitzung zeigt sich Fred von einer ganz anderen Seite. Er ist selbst ein Betroffener, tict ohne Tabu, ganz anders als ich, und er scheißt einen dicken Haufen auf das, was ich dabei empfinde. Für mich ein wichtiges Ereignis, weil er aufgrund seiner Körperlichkeit eine andere Resonanz erzeugt. Fred ist lauter, stärker, tiefer, weniger schambehaftet, und ich komme mir vor wie eine Kakerlake, die er wie eine Kippe tottritt.

Auf meinem Weg nach Hause frage ich mich, wie viel Sinn es macht, dass ein Ticer einen Ticer behandelt. Meine Erkenntnis ist schlicht und einfach: Besser geht es nicht, egal, wie sich das im ersten Moment anfühlt!

In der fast leeren U-Bahn tice ich. Schlagen, Kratzen, Klebehand zwischen meinen Beinen, das volle Programm, aber seltsamerweise alles ohne Ton.

Eine Frau mit Kind beobachtet mich dabei. Sie schmunzelt, schaut sich um, öffnet ihren Rolli samt Still-BH und lässt ihr Kind trinken. Dieser Frieden legt sich auch auf mein Stammhirn. Doch die Worte aus ihrem Mund stellen mich auf eine harte Probe: „Ich sehe dich heute zum zweiten Mal, sagst du mir deinen Namen?“, fragt sie.
Ich würd mir am liebsten selbst in den Arsch treten, mich köpfen und nageln, weil ich es nicht auf die Reihe bekomme, ihr zu sagen, dass ich mich an sie erinnere und ich sie mag. Stattdessen ticen:
„Bin bunt, lautleise, scheißvielfarbig und Fickweiß, immer schwarz, verkannte mich in dir, nein, hilf nicht mir, vielleicht jagen wir uns, Zangen stechen in grünes Fleisch! Antworte nicht! Bitte!“
Tränen rennen über mein Gesicht.

Sie sitzt immer noch da mit ihrem Kind an der Brust und schaut mich an.
„Ich würde dich gern treffen, hier ist meine Nummer.“
Sie steht auf, steckt einen Zettel in meinen Rucksack und küsst meine Wange.
„Ich sehe dich!“, ist alles, was ich zustande bringe, bevor ich aus der Bahn springe.

Alles zittert, als ich am nächsten Morgen ihre Nummer wähle …

„Kakophonia will sprechen und sagen, dass du schön und voller Frieden bist …“

©anahtar.pentruYveșipentrutoatecelelalte.lectură:joas

Letzte Aktualisierung: 19.03.2013 - 20.23 Uhr
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