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Selbst gemacht | März 2013

Impuls gleich Masse mal Geschwindigkeit
von Elmar Aweiawa

„Erika, beeil dich, wenn wir den Bus bekommen wollen, mĂŒssen wir los!“
Wie immer braucht sie eine halbe Ewigkeit. Paul weiß genau, was noch fehlt, was unweigerlich kommt, unmittelbar bevor sie das Haus verlassen.
„Huch, ich habe ja noch gar keine Kette an.“
Ein fröhliches Grinsen stiehlt sich in Pauls Gesicht. Unverzeihlich, als Hobbykunsthandwerkerin ohne Schmuck aus dem Haus zu gehen. Mindestens so unmöglich wie fĂŒr eine Kosmetikerin, ohne den zur Gelegenheit passenden Lippenstift unterwegs zu sein. Seit fast zehn Jahren sind sie nun zusammen, und er liebt sie fĂŒr diese kleinen Eigenheiten.

„Heute werden wir die richtigen Ringe finden“, verkĂŒndet sie, „das spĂŒre ich unter den FingernĂ€geln.“
„Ganz sicher, genau wie letztes Mal und vorletztes Mal und ...“
Mit gespieltem Zorn geht Erika auf ihn los und trommelt mit beiden FĂ€usten auf seine Brust.
„Du bist ein Ekel! Ich werde mir das noch gut ĂŒberlegen, ob ich dich heiraten will.“
„Nein, das wirst du nicht! Weil wir heute GlĂŒck haben und die passenden Ringe uns ins Gesicht springen. Gleich am ersten Stand. Da nehme ich Wetten an.“
„Na endlich, das ist die richtige Einstellung, mein Liebling.“

****

Karl und Egon sind unterwegs nach Stuttgart, Tankstellen beliefern. Wie jeden Tag.
„Wie weit ist es noch, Karl?“
„Zwanzig Kilometer. Plus minus.“
„Ein Katzensprung also. Den restlichen Weg muss unsere Debby alleine finden. Ich schalte jetzt auf Autopilot.“
Ein alter Witz, den einer der beiden bei jeder Fahrt zum Besten gibt. Debby, so nennen sie liebevoll ihren Tanklaster, zurzeit randvoll mit Benzin.
„Was hat Olga dir denn heute zu essen eingepackt? Meine Monika ist mal wieder nicht aus den Federn gekommen, da hab ich mir selber ein paar Wurstbrote geschmiert.“
Karl muss lachen und meint: „Einen StinkerkĂ€se. Wenn ich den hier im Laster auspacke, werden wir ohnmĂ€chtig. Da rollen sich unsere ZehennĂ€gel auf, der Kitt fĂ€llt aus der Brille und wir bekommen Ausschlag.“
„Verdammt, wo Olga den nur immer auftreibt? DafĂŒr mĂŒsste es eine eigene Gefahrgutverordnung geben.“
Sie sind gut drauf, Karl und Egon. Seit ĂŒber zwanzig Jahren sind sie Kollegen und treffen sich auch gelegentlich privat. Erst gestern haben sie gemeinsam Olgas Geburtstag gefeiert - und es ist spĂ€t geworden. Blöd, wenn man am Montag die erste Schicht hat, aber sie sind ein eingespieltes Team, da kann man sich das leisten.

****

„Mensch, ich bin hin und weg von den Ringen. Hol sie raus, dann schauen wir sie uns noch einmal an.“
Paul und Erika sitzen auf der Terrasse eines CafĂ©s. Vor jedem steht ein RiesenstĂŒck SchwarzwĂ€lder Kirschtorte, dem sie gleich ihre hungrige Aufmerksamkeit widmen wollen. Immerhin sind sie vier Stunden auf der Schmuckmesse von Stand zu Stand gelaufen, haben unendliche Mengen an Hochzeitsringen angeschaut, anprobiert, verworfen, in die engere Wahl genommen, verglichen und endlich, endlich welche gekauft. Paul hat am Ende zu allem Ja gesagt, so fertig war er.

„Sie sind wunderschön. Die werden den Standesbeamten so blenden, dass er sie uns abkaufen will. FĂŒr den doppelten Preis.“
„Ich werde sie mit meinem Leben verteidigen!“ Erika springt auf und schwingt einen imaginĂ€ren Degen durch die Luft. Sie erregen Aufmerksamkeit, doch das ist ihnen egal. Sie sind glĂŒcklich. Über den heutigen erfolgreichen Tag und das Leben, das es gut mit ihnen meint. Sie haben sich gefunden und werden bald verheiratet sein. Nur noch eine Woche bis zur Trauung.
„Wir werden ihm stattdessen ein paar Ringe aus dem Kaugummiautomaten unterjubeln, fĂŒr horrendes Geld“, fĂŒhrt Paul den Spaß weiter.
„Ist schon blöd, dass sie hier keine FußgĂ€ngerzone gemacht haben. Die Straße ist doch ziemlich laut“, beschwert sich Erika, weil sie Pauls letzte Worte nicht richtig verstanden hat.
Die Autos kommen zwar nur von rechts, weil es sich um eine Einbahnstraße handelt, doch kurz vor dem CafĂ© beschreibt sie eine Kurve, nach der die meisten Autos wieder beschleunigen.
„Ist fĂŒr nĂ€chstes Jahr geplant. Auch weil die Kehre zu gefĂ€hrlich ist“, weiß Paul.

****

„Mannomann, der verdammte KĂ€se hatte es wirklich in sich.“ Egon hĂ€lt sich mit zwei Fingern symbolisch die Nase zu.
„Klar doch! Dein Wurstbrot war aber auch nicht von schlechten Eltern. Das selbst gebackene Brot von Monika schmeckt herrlich“, meint Karl.
„Ich freue mich schon auf das Bier heute Abend.“
„Wir lĂ€uten das Wochenende freitags mit einem Schluck Wein ein. Heute gibt es einen Amarone. Hab ich gestern gekauft.“
Danach schweigen sie wieder, sie mĂŒssen nicht dauernd miteinander reden. ‚Wir sind ja keine Weiber‘, pflegt Karl zu sagen, wenn seine Frau Olga ihn zu Hause ausquetscht, was Egon im Verlauf des Tages so alles erzĂ€hlt hat.

„Du, pass auf, da vorne kommt die vermaledeite Kurve. In der hab ich mich schon mal fast verkeilt“, warnt Egon seinen Kollegen Karl, der gerade fĂ€hrt.
„Ich weiß, bin froh, wenn die neue Strecke endlich fertig ist.“
„Dann brems auch ab, sonst schaffst du es nicht.“
„Tu ich doch! Aber die Karre reagiert nicht!“
„Was heißt das, reagiert nicht?“
„Verdammt, die Bremse tut nicht!“
„Was?! 
“
Sowohl Karl als auch Egon ist das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Mit aller Kraft zieht Egon an der Handbremse, aber die Wirkung ist geradezu lÀcherlich. Mit gespenstischer Geschwindigkeit kommt die HÀuserfront auf sie zu.

****

Physik ist gnadenlos 
 p = m * v 
 Impuls gleich Masse mal Geschwindigkeit.
Stahlhartes Metall verbiegt sich wie Gummi.
Mauern stĂŒrzen ein.
Das FĂŒhrerhaus wird zerquetscht wie eine Laus.
Zwei Menschenleben verlöschen.
Wie in Zeitlupe legt sich der Tanker auf die Seite, kippt fast 
 kippt fast 
 kippt.
Ein Mauervorsprung zerfetzt die Ă€ußere HĂŒlle, schrammt an der inneren entlang, reißt sie auf.
Benzin ergießt sich ĂŒber die Straße, fließt in die Gullys, dringt in die Keller der HĂ€user ein.

****

„Was ist das fĂŒr ein LĂ€rm? Oh verdammt!“
Erika und Paul drehen sich um und sehen, wie das Benzin auf sie zulĂ€uft. Wie alle anderen springen sie auf und flĂŒchten in die entgegengesetzte Richtung. Erika ist langsamer als Paul, er ergreift ihre Hand und zerrt sie hinter sich her. Ein Blick zurĂŒck zeigt ihm, dass der Vorplatz des CafĂ©s bereits komplett ĂŒberflutet ist.

„Die Ringe!“, schreit Erika, reißt sich los und bleibt stehen, Verwirrung im Gesicht.
„Was ist?“, brĂŒllt Paul zurĂŒck, denn er ist weitergelaufen.
„Wir haben sie liegen lassen“, schreit Erika verzweifelt. Sie ist bereits wieder auf dem Weg ins CafĂ©.
„Nein, das ist Wahnsinn, komm zurĂŒck!“ Das Entsetzen verzerrt Pauls Gesicht zu einer Fratze. Schritt fĂŒr Schritt weicht er vor dem sich weiter ausbreitenden Benzin zurĂŒck, lĂ€sst kein Auge von Erika.
Sie ist mittlerweile an dem Tisch angelangt. Ein Griff nach ihrer Handtasche, schon ist sie wieder auf dem RĂŒckweg.

****

Ein Mensch ĂŒberquert eine Straße, ein Auto fĂ€hrt vorbei. WĂ€re es einige Millisekunden frĂŒher dort entlang gefahren, wĂ€re der Mensch tot gewesen. Das Leben besteht aus Millionen solcher Ereignisse, die sich zeitlich in genau der richtigen Abfolge ereignen mĂŒssen, damit wir ĂŒberleben können.
Niemand weiß, warum das Benzin den Holzofen in einem der ĂŒberfluteten Keller genau zu diesem Zeitpunkt erreichte. WĂ€re es nur wenige Augenblicke spĂ€ter geschehen, hĂ€tte Paul sich nicht sein Leben lang VorwĂŒrfe machen mĂŒssen, weil er Erika nicht fest genug an der Hand gehalten hat.


© by aweiawa, 2013

Version 1

Letzte Aktualisierung: 25.03.2013 - 09.07 Uhr
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