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Selbst gemacht | März 2013

Herzensdinge
von Karin Hübener

Mit einem Seufzer plumpste Gerda Strobel in ihren Lieblingssessel vor dem Fenster. Heute gab's mal kein Programm. Weder Gymnastik noch Frauenhilfe, Enkelhüten oder Gospelchor. Nur Entspannung. Schön.
Bevor sie ihren Korb mit dem Strickzeug heranzog, warf sie einen Blick auf die Straße. Beim Kiosk gegenüber versorgten sich Nockemanns Kinder gerade mit Comics und Süßigkeiten. Vor dem Mietshaus daneben schob Frau Lutz ihre Biotonne an den Straßenrand und unterhielt sich dabei mit ihrer Katze. Am Ende der Straße rumpelte ein Kleintransporter vom Schrottplatz.

Gerda griff in den Korb. Auf dem Markt hatte sie besonders schöne Sockenwolle erstanden. Bunt, griffig und günstig. Das Bündchen ihres aktuellen Werkes war in verschiedenen Blautönen gehalten. Die Freundinnen bei der Frauenhilfe würden staunen.
Zwei rechts, zwei links. Das ging ganz automatisch. Mit hoher Geschwindigkeit und fast ohne Hingucken. Finger, Nadeln und Wolle konnte man in dem Gewirr kaum voneinander unterscheiden. In einem halben Jahr begann schon wieder der Weihnachtsmarkt, dachte sie. Ihre Socken gingen dort weg wie warme Semmel. Gut, Hedwigs Waffeln auch. Aber Beas Früchtebrote weniger.

Bevor sie mit der Fersenwand begann, schaute sie noch einmal hinaus. Komisch, was lag denn da vor der Mauer des Schrottplatzes? War vorhin noch nicht da gewesen. Wirkte wie ein Metallteil. Aber zu weit weg, um es genau zu erkennen. Vielleicht hatte es jemand verloren. Na ja, würde derjenige schon merken.

Bis zum Käppchen ging es glatt rechts und glatt links. 32 Reihen. Dabei kam ihr wieder der Weihnachtsmarkt in den Sinn.
Der Transport aller Spenden war immer beschwerlich. Denn der Weg vom Kirchplatz durch die Fußgängerzone bis zum Markt hatte es in sich. Und abends musste das Zeugs wieder ins Gemeindehaus zurückgeschafft werden. Nett war natürlich, dass die Jungs vom Männerkreis dabei halfen. Gerda wurde es warm ums Herz.
Im Geiste hörte sie Hedwig flüstern: "Schau mal, der Holger hat einen richtigen Knackarsch."
Bea bemerkte daraufhin: "Ist selten bei älteren Herrn. Meistens hängt denen der Po ja schlaff bis zur Kniekehle."
"Woher weißt du das denn?", hatte Gerda gefragt und alle waren in Gekicher ausgebrochen wie alberne Teenager.

Die Abnahme für's Käppchen konnte beginnen. Zuvor erneut ein Blick auf die Straße. Irrte sie sich oder hatte sich das Schrottteil vermehrt? Das musste sie jetzt wissen. Behutsam legte sie die halbe Socke zur Seite und ergriff den Feldstecher, der zwischen Clivia und Begonie seinen Platz hatte.
Aha. Da lag tatsächlich Metall. Sah aus wie ein Eisenreifen mit Speichen. Und quer darüber eine Stange. Unachtsame Leute. Konnten doch Fußgänger drüber stolpern.
Gerda Strobel wollte sich gerade wieder ihrer Socke zuwenden, als sie auf der Mauerkrone eine Bewegung bemerkte. Sie stellte die Schärfe des Fernrohrs nach und erschrak. Donnerlittchen, da schob doch tatsächlich jemand von der Schrottplatzseite aus einen Gegenstand auf die Mauer. Vielleicht Kinder, die sich ihr Taschengeld aufbessern wollten. Oder ein echter Metalldieb. Las man ja dauernd in der Zeitung von. Jetzt ließ der Schuft seine Beute an einer langen Schnur auf den Bürgersteig hinab. Sah aus wie ein Rad am Haken.
Schnell setzte sie den Feldstecher ab und rannte in den Flur. Mit Telefonbuch und Mobilteil kam sie zurück. Sie musste unbedingt diesen Schrotthändler anrufen. Aber wie hieß der Mensch doch gleich? War manchmal auch mit im Männerkreis. Bert natürlich. Aber wie weiter?
Beim Blättern wechselte ihr Blick ständig zwischen dem Buch und dem Schrottplatz hin und her.

Welch glücklicher Zufall! Da trat doch tatsächlich Holger aus dem Tor. Holger mit dem Knackarsch, der so schmissig Tango tanzte, bei Gemeindefesten fleißig mit Hand anlegte und der sie für Samstag zum Max-Raabe-Konzert eingeladen hatte.
Jetzt schnell die Gardine aufgeschoben, die Blumentöpfe zur Seite gestellt und das Fenster aufgerissen. Wenn sie Holger ihre Warnung zurief, könnte der Metalldieb im Hof noch geschnappt werden.
Aber anstatt das Fenster zu öffnen, erstarrte Gerda Strobel in ihrer Bewegung. Denn Holger schaute sich vorsichtig um. Dann schlich er zu dem Metallhaufen vor der Mauer und hob ihn auf. Die Räder über den Arm geschoben, die Stange fest in der Hand. Sein alter Kombi stand nicht weit. Heckklappe auf, Diebesgut rein, Heckklappe wieder zu. Der Rums hallte bis zu Gerda in den ersten Stock hinauf.
Als sie wieder in ihrem Sessel saß und fassungslos auf den Teppich stierte, hörte sie sein Auto die Straße hinunterfahren. Das durfte nicht wahr sein. Ihr Holger klaute.

Wie schön war es gewesen, nach Jahren wieder einmal Händchen zu halten. Verehrung zu spüren. Zu flirten und zu lachen. Alles ganz harmlos noch. Aber schon Schmetterlinge im Bauch.

Das Max-Raabe-Konzert konnte sie nun vergessen. Und die Seniorentänze auch. Mit einem Dieb wollte sie nichts zu tun haben. Ach Gott, würde das kompliziert werden bei der Gemeindearbeit. Wie sollte sie nur Abstand halten von diesem Kerl? Am besten wäre, ihm die Wahrheit an den Kopf zu knallen. Aber vor all den anderen? Niemals! Mit ihm telefonieren?
Sie musste ihre Enttäuschung jetzt erst einmal verdauen. Es würde sich schon ein Weg finden, Gott verflucht noch mal!
An diesem Abend strickte sie noch drei Paar Socken. Das Fernrohr hatte erst einmal ausgedient.

Zwei Tage später saß Gerda Strobel mit ihren Freundinnen beim Pfarrer, um Termine abzusprechen. Aber ihr Herz pochte so heftig, dass sie sich schlecht auf das Gespräch konzentrieren konnte. Heute wollte sie mit Holger brechen. Sie hatte vorhin seinen Kombi vor dem Gemeindehaus stehen sehen.
Nach einem energischen Klopfen wurde die Tür des Gruppenraums geöffnet.
"Hallo, liebe Leute, ich hab was für euch!" Mit strahlender Miene schob Holger Krampe einen Handkarren herein.
Das Gefährt bestand aus einem geräumigen Kasten, der auf einer Achse mit zwei Rädern auflag. Eine leicht geschwungene Eisenstange diente als Griff. Unter den beiden Ecken vor Kopf waren Stützen angebracht, sodass die Karre beim Abstellen nicht umkippte. Die beiden Räder aus Eisen erkannte Gerda sofort.
Die anderen Frauen sprangen vom Tisch auf und ließen ihrer Begeisterung freien Lauf.
"Sag blos, das ist für den Weihnachtsmarkt!" Hedwig streifte mit ihrer Hand über den Kastenrand. "So geräumig. Holger, du bist ein Ass!"
Bea entdeckte die zusammengefaltete Plane auf der Ladefläche. "Nein, wie praktisch!", rief sie. "Da passt ja eine Menge drunter."
Auch der Herr Pfarrer bequemte sich, das Gerät zu begutachten. Zuerst zog er eine kritische Miene. Als er aber mit Hilfe des Griffs die Karre mühelos hin und her geschoben hatte, war er zufrieden. "Lässt sich in der Tat leicht bewegen. Ist das nun eine Spende oder eine Leihgabe, Herr Krampe?"

Holger Krampe antwortete nicht. Er blickte stattdessen zu Gerda herüber, die am Tisch sitzen geblieben war.
Gerda Strobel spürte ihr Herz nicht mehr. Es war wohl stehen geblieben. Ihr war kalt. Und dann schaute Holger sie auch noch so besorgt an.
"Ist dir nicht gut, Gerda?", fragte er.
Alle Augen wandten sich ihr zu. Man erwartete eine Antwort.
"Ich ..., ich denke nur gerade, wie teuer das wohl war." Ihr Herz war wieder in Gang gekommen und klopfte.
"Ach gar nicht!" Holger lachte erleichtert. "Ich habe doch alles selbst konstruiert. Die Bretter hatte ich noch im Schuppen."
"Und die Räder? Und den Eisengriff? Die auch?"
Der Pfarrer und die Freundinnen schienen nicht mehr im Raum zu sein. Nur noch sie und Holger.
"Also die ..., also die ... , da muss ich zugeben, also die ..." Holger geriet ins Stottern.
Wenn er jetzt nur nicht log, hoffte Gerda.

An Holgers Stelle antwortete Bert vom Schrottplatz. Er hatte offensichtlich den Auftritt vom Flur her belauscht.
"Die waren tatsächlich nicht billig." Bert schlug seinem Freund so heftig auf die Schulter, dass dieser zusammenzuckte. "Wir haben um den halben Preis gewettet, dass Holger nichts unbemerkt vom Hof schmuggeln könnte. Schon allein wegen dem Wachhund. Aber Rex ist leider vertraut mit ihm. Daran hatte ich nicht gedacht." Bert Tingelhoff lachte. Der Pfarrer und die Damen ebenso.
"Wie hat er es denn angestellt?", wollte Hedwig wissen.

Gerda und Holger hörten nicht weiter auf das Geschnatter.
Er beugte sich zu ihr über den Tisch und fragte: "Du hast mein Treiben beobachtet, stimmt's?"
Sie sah ihm in die Augen und nickte stumm.
"Und hast mir den Diebstahl zugetraut?"
Am liebsten hätte sie jetzt gelogen und den Kopf geschüttelt. Aber das ging nicht. Dafür war die Sache zu ernst. Also nickte sie erneut.
Er zog heftig Luft durch die Nase.
Gerda fühlte sich schlecht. Jetzt war alles kaputt.

"Dafür schuldest du mir einen Schnaps!", erklärte er.
Die Damen und Herren im Raum verstummten. Lauschten, was das Paar am Tisch sich zu sagen hatte.
Gerda spürte, wie sie rot wurde. Peinlich. Und doch auch schön. Wunderschön.
"Am Samstag vor Max Raabe?", fragte sie lächelnd.
"Nee, nee, meine Liebe. Das dauert mir zu lange. Wie wär's denn gleich heute Abend nach der Gemeindearbeit?"
"Na gut", antwortete Gerda.

Letzte Aktualisierung: 15.03.2013 - 09.04 Uhr
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