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Selbst gemacht | März 2013

Sandbank in Rosarot
von Sylvia Schöningh-Taylor

Ihr Schiff war eine lange Zeit immer dem Horizont entgegen gesegelt. Der Horizont war das GrĂ¶ĂŸte, was ihr der liebe Gott zum Geschenk gemacht hatte, denn egal , wie weit ihr Schiff sich dem Horizont nĂ€herte, er war immer viel weiter als ihr kleines Schiff. Dass es etwas gab, das grĂ¶ĂŸer war als sie, gab ihr ein GefĂŒhl tiefen Vertrauens in ihre Reise. Dann aber war etwas geschehen, was den weiten Horizont genommen und zu etwas Kleinem gemacht hatte. Du kannst nicht lieben – der Fluch der Mutter schloss den Horizont um ihren Hals wie einen MĂŒhlstein.
Da lief ihr stolzes Schiff auf Sand. Fortan wurde das Navigieren schwer, denn Schiffe brauchen Wasser. Was zuvor sich so leicht in den Bug warf, war nun schwer und anstrengend. Seufzend schnĂŒrte sie zwei Taue um den Schiffsleib und warf sich in die Seile. Aber wie krĂ€ftig sie auch zog, ihr Schiff bewegte sich nicht vom Fleck. Erschöpft gab sie auf. Nach und nach vergaß sie den Horizont und gab sich schließlich zufrieden mit einem versandeten Boot. Und sie richtete sich ein in einer horizontlosen Welt. Sie kaufte pinkfarbenen Puderzucker, um dem freudlosen Sand ein dekoratives Aussehen zu geben. Und an die Fenster ihrer unbeweglichen Welt hĂ€ngte sie muntere Gardinchen. Die Segel aber arbeitete sie um zu einer praktischen Wohnzimmergarnitur. Und weil mit dem Horizont auch die Sonne verschwunden war, machte sie sich selbst eine auberginenfarbene Ersatzsonne, passend zu den Gardinen.
Sie hĂ€tte sich auf ihrem ZuckerbĂ€cker-Schiff wohl einrichten können, wenn nicht durch ihren Schlaf im Schiffsbauch jede Nacht die See gerollt wĂ€re. Ihre TrĂ€ume erinnerten sie hartnĂ€ckig daran, dass das Meer majestĂ€tisch und der Horizont weit war. Und dass ihr Schiff vom Kurs abgekommen war, mochte sie ihre horizontlose Welt noch so perfekt verzuckern. Stöhnend wachte sie aus dem Meertraum auf und versuchte ihn zu vergessen. Aber ĂŒber die Jahre gelang ihr das immer weniger. Schließlich stach ihr das Bonbon-Rosa ihrer Sandbank so schmerzhaft in die Augen, dass sie zu weinen begann. Sie hatte aber gar nicht gewusst, dass ihr Herz von TrĂ€nen randvoll war aus lauter Sehnsucht nach dem Horizont. Ihre TrĂ€nen flossen und flossen, bis ein Fluss entstand, auf dem ihr Schiff sanft zum Meer hinaus schaukelte.
Und da sah sie ihn wieder – den weiten Horizont. Er war immer dagewesen, sie hatte ihn nur aus den Augen verloren. Ihr Herz hĂŒpfte vor Freude und Dankbarkeit. Dann setzte sie ihre Segel und fuhr der grenzenlosen Weite entgegen.

Letzte Aktualisierung: 06.03.2013 - 20.48 Uhr
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