Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Unsichtbar | April 2013
Vergilbtes Tapetenmuster
von Anne Zeisig

Hans-Georg trommelte mit den Fäusten auf seine Brust ein und lamentierte lauthals: “Das musst du verstehen! Mir ihr erlebe ich keinen tristen, grauen Herbst! Sie lässt den Vulkan in mir erglühen bis er ausbricht und die glühende Lava sich explodierend ihren Weg bahnt.”
Keuchend fiel mein Mann in den Sessel und japste. “Ja, so ist das. Nun weißt du es.”
Ich legte seine Fußballzeitschriften Kante auf Kante neben das Spitzendeckchen und nippte
an meinem Tee. “Ja, ich habe verstanden, dass du eine junge Freundin hast, für die du der Hengst im Bett bist.” Nun warf ich seine Zeitschriften in den Papierkorb. “Und du glaubst, dass ihre Jugend auf dich abfärben könnte.”
Er öffnete seinen Hosenknopf, weil die Jeans wegen des Bauchumfanges bereits wieder zu eng geworden war.
“Ich lasse mir dieses neue Glück von niemandem vermiesen oder verbieten. Besonders nicht von dir.”
Hans-Georg erhielt von mir einen letzten Abschiedskuss auf seine Halbglatze, ich verteilte flugs seine Kleidung in sämtliche Koffer und drückte ihm die Telefonnummer unserer Tochter in die Hand. “Sie freut sich bestimmt, wenn du ab und zu mit ihr sprichst. Suse studiert in München. Das zur Erinnerung, denn offenbar ist dein Grips in die Hose gerutscht und deshalb ist sie auch zu eng geworden.”
Blass stand er neben den Koffern. “Du lässt mich einfach gehen? Nach so vielen Jahren?”
“Ja”, zischte ich und unterdrückte meine Tränen, “geh sofort, bevor MEIN Vulkan ausbricht und die brodelnde Lava dich vernichtet.”
‘Bis auf ‘s Skelett’, dachte ich, ‘und dann kannst du zusehen, ob dein junges Täubchen in der Lage ist, dir alle Hosen enger zu nähen.’
Er trug sein Hab und Gut mit hängenden Schultern die Treppe hinab und sah sich nicht mehr nach mir um.
‘Jeder ist entbehrlich. Ich auch. Wozu gibt es Schneidereien’, dachte ich bitter.

* * *

Ich hatte weit hinten in der Ecke einen Fensterplatz ergattert. Hier im Cafè war es wohlig warm. Ich rieb meine Finger aneinander und hauchte darauf, damit sie warm würden. Vor dem Fenster tanzten die Schneeflocken schwerelos unbekümmert umher und vorne auf der Tanzfläche bewegten sich Paare zur Schrammel-Musik.
Ich zog meine graue Jacke aus und drängte mich durch die engen Tischreihen zur Garderobe. Die zahlreichen Gäste waren mit sich selbst beschäftigt.
Ein junges Pärchen küsste sich intensiv. Ihre Lippenpiercings klimperten hell aufeinander. Er fuhr ihr dabei durch das lange, schwarze Haar mit pinkfarbenen Strähnen. Sie wirkten in diesem plüschigen, leicht verstaubten Ambiente wie ein Lichtblick. Farbig und voller Esprit. Wehmütig dachte ich an meine jungen Jahre, als ich mich vor Kavalieren kaum retten konnte und wir heimlich auf dem Hinterhof zwischen den Müllbehältern erste, zaghafte Küsse ausgetauscht hatten. Und wie stolz ich auf meinen ersten Petticoat war! Drehte mich übermütig im Kreis und der rote, weite Rock schwang sich schmeichelnd um die braungebrannten Beine. Meine blonden Locken tanzten vorwitzig mit.

Zwei Seniorinnen mit Silberhaupt und Donauwellen-Frisuren kicherten wie Teenies und nuckelten an den Strohhalmen eines Long-Drinks. Sie waren mit Modeschmuck behangen wie Christbäume.
Zwei Tische weiter zwinkerte ein alter Faltenkauz zu ihnen hinüber, er erhob sein Glas und prostete ihnen zu. Ein lässig drapierter, kornblauer Schal zierte sein dunkles Sakko.
Zwei Mittfünfzigerinnen rückten ihre Stühle nicht ein bisschen zur Seite, damit ich besser durchkäme. “Alles alte Herrschaften hier. Wir bezahlen und gehen sofort”, hörte ich eine von Beiden sagen und hängte meine Jacke an den Haken. Zurück nahm ich den Umweg vorbei an der Tanzfläche, wo eine Spiegelmosaik-Diskokugel aus den Siebzigern für die entsprechende Beleuchtung sorgte.
Ein hoher Absatz bohrte sich schmerzhaft in meinen Fußrist. Das Pärchen jedoch tanzte unbeeindruckt weiter und schenkte mir keinen auch noch so kurzen Blick der Entschuldigung.

Vor mir huschte der Ober vorbei. Weil er wegen der lauten Musik auf mein Rufen nicht reagierte, zupfte ich ihn am Ärmel. Überrascht drehte er sich herum. “Eine Tasse grünen Tee bitte!”, schrie ich und zeigte nach hinten zu meinem Tisch. Er nickte kurz und servierte an einem der vorderen Tische Sahnetorten an eine Gruppe Frauen, deren festliche Kleidung mit dem Licht um die Wette funkelte. Eine wurde gerade von einem Herrn mit roter Fliege und Einstecktuch zum Tanz aufgefordert.
Ich ordnete meinen Dutt und setzte mich. Hans-Georg hatte es immer sehr geschätzt, dass ich mich nie aufdonnerte wie eine alternde Opern-Diva.
Der Kellner servierte am Nebentisch einer Frau in meinem Alter einen Eisbecher. Sie steckte den langen Löffel andächtig in diesen Berg aus Eis, Früchten, Sahne und lutschte ihn schmatzend zwischen ihren knallrot geschminkten Lippen leer.
“Bitte!”, erinnerte ich den Kellner laut, “Sie haben meinen Tee vergessen!”
Er nickte kurz und verschwand hinter der Schwingtür.
Mein Handy vibrierte und zeigte Suses Nummer an.
“Bist du endlich mal unter die Leute gegangen, Mutt? Das ist gut. Und Musik höre ich auch im Hintergrund.”
Ich schrie ins Telefon, dass sie lauter reden solle.
“Da wird sich bestimmt schnell ein Tänzer für dich finden. Ich hoffe, dass du dich wenigstens etwas aufgestylt hast. Also. Ich melde mich wieder. Bussi!”
‘Keine Sorge, Kind’, dachte ich, ‘bin stets korrekt gekleidet.’ “Bussi!”, sagte auch ich laut in den Hörer.

Der Tee stand wieder nicht auf seinem Tablett, als er einem Herrn gegenüber Kaffee servierte, der sich hinter einer Tageszeitung verschanzt hatte.
“Sie haben meinen Tee vergessen”, erinnerte ich ihn abermals.
Der Kellner nickte wieder, eilte zu dem festlichen Damenkränzchen und stellte einen Sektkühler auf den Tisch.
Mein Gegenüber neigte die Zeitung raschelnd beiseite. Für einen kurzen Augenblick traf mich sein Blick, bis er sich wieder hinter der Lektüre verbarg.
“Ich habe ihn bereits zweimal aufgefordert, mir Tee zu bringen”, bekräftigte ich und blickte zu der Frau neben mir, die ihr Eis inzwischen ausgelöffelt hatte und die Lippen nachzog.
“Zwei Mal”, wiederholte ich.
Sie zuckte mit den Schultern, verstaute Schminkspiegel und Lippenstift in ihre Handtasche, schaute geradeaus zur Tanzfläche und danach in die Runde. Ihre Augen blieben am Zeitungsleser haften.
“Tanzen Sie?”, fragte sie hinüber.
Er legte die Zeitung auf den Tisch, erhob sich, knöpfte den mittleren Knopf am Sakko zu und machte eine leichte Verbeugung.
“Sehr gerne. Darf ich bitten?”
Sie stöckelte an seinem Arm nach vorne.

Ich glättete meinen Tweedrock, kontrollierte sorgfältig, ob der oberste Knopf meiner Bluse geschlossen war, sah hinter mich zur Wand und blickte an mir hinunter.
Wieder hatte ich das vergilbte Muster der Tapete angenommen.
Gestern im Kaufhaus war es die verblichene graue Wand.

© anne zeisig, ENDfassung

Letzte Aktualisierung: 26.04.2013 - 09.30 Uhr
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