Ganz schön bissig ...
Ganz schön bissig ...
Das mit 328 Seiten dickste Buch unseres Verlagsprogramms ist die Vampiranthologie "Ganz schön bissig ..." - die 33 besten Geschichten aus 540 Einsendungen.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Monika Heil IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Unsichtbar | April 2013
Und plötzlich sind da diese Fragen
von Monika Heil

Der Tag ist viel zu schön, um ihn im Haus zu verbringen. Verena sitzt auf ihrer Gartenbank – Pauls Geschenk zu ihrem Fünfzigsten mit einer von ihm selbst geschnitzten Rückenlehne - und träumt. Die Tageszeitung hat sie durchgelesen und überlässt es nun der leichten Brise, die Seiten erneut umzublättern. Sie trinkt den letzten fast kalten Schluck Kaffee, lehnt den Kopf zurück und bietet ihr Gesicht den wärmenden Sonnenstrahlen dar. Die Arme ruhen weit ausgebreitet auf der weißen Holzlehne. Wolkenweiches Glück hüllt sie ein. Der Duft des frisch gemähten Grases wetteifert mit dem intensiven Apfelaroma des alten Obstbaumes. Paul hat vergessen, die Leiter wegzuräumen. Eine gute Gelegenheit, selbst ein paar Früchte zu ernten, überlegt sie und beschließt, nachher einen Kuchen zu backen, denn sie weiß, ihr Mann liebt Apfelkuchen mit Schmand nach Omas altem Rezept.

Verena steht gemächlich auf, streicht ihre Haare zurück und schiebt die Sonnenbrille in die noch immer dunkle Mähne. Paul hat für seine Apfelwein-Kelter-Versuche sämtliche leicht erreichbaren Früchte geerntet. Nun muss sie weit hinauf in die Krone des knorrigen alten Baumes steigen. Macht auch nichts, denkt sie, nimmt den Weidenkorb und freut sich auf das Pflücken der reifen Früchte. Sie weiß, Paul sieht das nicht gern. Ihr Mann ist in die Stadt gefahren, will zum Friseur, dann Zeitungen und Tabak kaufen. Bis er zurück kommt, ist alles erledigt, beruhigt sie sich.

Stufe um Stufe steigt sie hinauf. Das dichte Blätterdach bremst das Sonnenlicht und auch die ächzenden Geräusche der teilweise morschen Äste. Verena hört das Knacken einer der oberen Sprossen. Ihr Schrei verfängt sich in den Blättern. Sie fällt und fällt. Nichts bremst ihren Sturz. Der Gartenboden, der sich unter ihren Füßen stets weich und angenehm angefühlt hat, setzt ihrem Körper hart zu. Der Aufprall presst die Luft aus ihren Lungen, stechender Schmerz nimmt ihr den Atem. Benommen liegt sie da, unfähig sich aufzurichten, unfähig sich bemerkbar zu machen. Im Unterbewusstsein weiß sie, dass niemand da ist, der sie hören könnte. Ein paar Gesichter zupfen an ihrem Gedächtnis. Ihre Eltern, deren Haus sie vor zehn Jahren erbte, sind tot. Ihre Tochter Sandra ist längst ausgezogen.

Niemand ist in der Nähe. Und doch glaubt Verena, eine Stimme zu hören. Leise, fordernd.
„Kind, komm her. Hab keine Angst. Hier gibt es keine Sorgen, keine Schmerzen, kein Kampf ums Überleben.“ Woher kommt diese Stimme? Es riecht nach Maiglöckchen. Das Parfüm ihrer Mutter. Die Stimme ist so leise, so weit weg.
Verena weiß, sie liegt auf dem Rasen in ihrem Garten und gleichzeitig kommt es ihr vor, als schwebe sie über allem. Sie hat das Gefühl, als träte sie aus ihrem eigenen Leben heraus. Sie will zurück in ihr Haus. Weg von dieser Stimme, die inzwischen fast zu einem Flüstern verebbt ist.

***

Verena sieht sich um. Ihr Schlafzimmer. Der große Spiegel. Sie schaut hinein und wundert sich über die schnell laufenden Bilder, die an ihr vorüberziehen. Staunend beobachtet sie dreißig Jahre Wandel und Veränderungen.
Standbild. Der Spiegel wirft ihr ein scheinbar fremdes Gesicht entgegen. Meine Güte, bin ich das?, fragt sie sich erstaunt. Zu viele Falten, stellt sie entgeistert fest. Warum hängen die Mundwinkel so herab? Warum wirkt mein Blick so desillusioniert?, überlegt sie befremdet.
Paul kommt durch die Tür, schaut kurz zu ihr hinüber und geht schweigend an ihr vorbei. Sie hat den Eindruck, er nimmt sie gar nicht wahr. Erstaunt beobachtet sie diesen Mann. Erinnerungen reihen sich hintereinander auf. Ich habe Paul wirklich geheiratet, denkt sie. Das ist der Mann, den ich als junges Mädchen angehimmelt habe, für den ich mein Studium aufgab. Ich hätte damals alles für ihn getan. Meine große Liebe. Und heute? Man sieht ihm sein Alter an. Seine Haare sind dünn und grau. Falten haben Jahresringe um seine Augen gezeichnet. Seine Gesichtszüge wirken verbittert, sein Gang ist müde. Ach Paul, was ist aus uns geworden? Sind wir noch glücklich? Sie ist nicht sicher, ob sie die Worte ausgesprochen oder nur ausgeatmet hat.

Sandra taucht hinter ihr auf. Als ihre Tochter zur Welt kam, war sie der Überzeugung, das kleine, pummelige, schreiende Bündel sei das süßeste Baby, das je geboren wurde. Erstaunt registriert Verena, wie erwachsen das Kind geworden ist. Eine selbstbewusste, junge Frau. Ganz anders als ich in ihrem Alter, staunt sie. Wie modisch sie sich kleidet. Hübsch ist sie geworden, die Kleine. Jetzt ist Verena ganz stolze Mutter.
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Hat das Paul gesagt? Ein Sprichwort. Wie schön.

Jetzt steht Verena in ihrem Wohnzimmer. Erneut bedrängen sie ihre Gedanken. Wer hat das Zimmer eingerichtet? Leichte Frage. Die Möbel hat Paul ausgesucht, erinnert sie sich. Auch die Tapeten. Zeitlos, hatte er gemeint. Fad und trist sind sie, stellt sie heute fest. Schwere, dunkle Vorhänge sperren sich gegen das Licht. Trostlos. Warum habe ich das alles zugelassen, überlegt sie mit einem Gefühl der Hilflosigkeit. Sandra, bist du deshalb so früh aus deinem Elternhaus ausgezogen? Oh Paul, was ist aus uns geworden? Niemand antwortet ihr. Noch während sie dem erschöpften Schweigen nachspürt, ist sie wieder da, diese Stimme.
„Kind, komm her. Hab keine Angst.”

***

Verena liegt bewegungslos unter dem alten Apfelbaum. Ihr Atem geht flach. Sie versucht, den Kopf zu bewegen. Vergeblich. Sie atmet ein, sie atmet aus, ein, aus, ein und ...

Sie hört Pauls Schrei nicht mehr, sieht nicht, dass ihm seine Pfeife aus den Händen gleitet, spürt nicht seine Finger an ihrem Puls, sein Ohr an ihrem Herzen, merkt nicht, dass er das Handy aus der Tasche reißt, hört nicht, wie er in den Apparat brüllt.

Verena geht hinüber in eine unsichtbare Welt und all ihre Gedanken und Gefühle gehen mit ihr. Ein ungeschützter Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht.

2. Version

Letzte Aktualisierung: 21.04.2013 - 16.28 Uhr
Dieser Text enthlt 5928 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.