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Unsichtbar | April 2013

Löcher
von Elsa Rieger

Laura schlief schlecht. Wenn die Träume kamen, begrüßte sie die immer gleichen Bilder wie alte Feinde. Beruhigungsmittel wirkten schon lange nicht mehr.
Die Maden krochen aus ihren Augenhöhlen, zerfraßen ihr Gesicht. Dunkle Löcher im Fleisch, dazwischen blitzten die bleichen Knochen hervor. Und wieder hatte sie von Mutters Tod geträumt und der Szene, als der Sarg in die Erde gesenkt wurde. Sie erwachte im Morgengrauen und schüttelte sich vor Entsetzen.
Gleich nach dem Begräbnis hatte sie zur Tante übersiedeln müssen. Täglich hatte sie dort zu spüren bekommen, wie unerwünscht sie war.

Sie tappte in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Mit gesenktem Blick putzte sie sich die Zähne, wusch sich, griff nach dem kleinen Spiegel, der immer nur den kleinen Ausschnitt zeigte, den sie schminkte. Ohne sich anzusehen, schmierte Laura das volldeckende Make Up auf die Haut. Danach bearbeitete sie jeweils ein Auge, zuletzt malte Laura die Lippen aus. Dann das Ergebnis im großen Spiegel: Perfekt.
Niemand konnte ihr wahres Aussehen dahinter erblicken. Beim Kaffee fühlte Laura, dass etwas geschehen musste, die Träume wurden grauenhafter, der Druck von Tag zu Tag größer. Ob sie einen Arzt aufsuchen sollte?

„Sie haben keine Löcher im Gesicht. Im Gegenteil, Sie sind sehr hübsch“, hatte der Letzte gesagt.
Er war blind oder versuchte ihr etwas einzureden.
„Weißt du einen guten Dermatologen?“, fragte sie ihre Freundin und Arbeitskollegin im Büro.
Inge ließ die Maus los, schwenkte den Drehstuhl und sah Laura lange an.
„Ich glaube, du brauchst eher einen Therapeuten. Deine Haut ist tadellos. Schon immer.“
Laura fuhr mit der Hand zu ihrem Gesicht.
„Durch die Schminke kannst du das nicht sehen.“
„Heute nach der Arbeit gehen wir zu dir nach Hause, dann zeigst zu es mir endlich.“
Lauras Blick flackerte, sie schüttelte den Kopf.
„Ich kann es mir selbst nicht antun – geschweige denn dir, Inge.“
Inge wuchtete ihre einhundert Kilo aus dem Stuhl, umarmte Laura.
„Doch. Ich bin deine Freundin.“
Mit siebzehn hatten sie sich kennengelernt. Gemeinsam mieteten sie eine Wohnung. Als Laura die kaufmännische Lehre beendet hatte, suchte sie sich etwas Eigenes. Inges bohrende Fragen wegen ihres Gesichtes, das sie auch damals nicht ohne Maske präsentierte, hatte sie auf Dauer nicht ertragen. Sie verloren sich für ein paar Jahre aus den Augen und trafen einander durch Zufall wieder, als Laura ihren Arbeitsplatz gewechselt hatte. Nun saßen sie im selben Zimmer.

Inge hatte nicht locker gelassen, Laura begleitet, und nun standen sie in ihrem Bad vor dem großen Spiegel.
„Was siehst du, Laura?“
„Jetzt nichts.“
„Wasch das Zeug runter.“ Inge legte die Hand auf ihre Schulter und streichelte sie. Seufzend schminkte Laura ihr Gesicht ab.
„Ich sehe eine glatte, rosige Hautfläche“, sagte Inge mit einem fröhlichen Lachen.
„Löcher! Es sind überall dunkle Löcher.“ Laura verzog den Mund. Der Anblick erfüllte sie mit Ekel, sie senkte den Blick. Erschrocken zuckte sie zurück, als Inge ihr Gesicht berühren wollte, zitterte und keuchte, doch die schwere Frau umklammerte sie und näherte ihre Hand von neuem Lauras Wangen. Strich über die zarte Haut.
„Wie fühlt es sich für dich an?“
„Ich spüre nichts.“
„Und jetzt?“ Inge zwickte sie.
„Nein. Ich sehe nur, wie du in die Löcher greifst.“
Sie begann zu weinen, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.
„Ich trage eine große Schuld, Inge. Du kannst das nicht verstehen.“
„Vertraue mir. Ich kenne einen guten Traumatherapeuten. Lass dir von Franz helfen.“

Franz saß ihr gegenüber, ohne einen Tisch dazwischen und legte die Hände auf ihre Knie.
„Laura“, sagte er, „seit wann tragen Sie die Maske?“
„Mit vierzehn fing es an.“ Sie hatte das Gefühl, schrecklich müde zu werden und lehnte sich im Sessel zurück.
„Schließen Sie die Augen.“
Waren es die Hände des Therapeuten oder seine Stimme, die Laura müde machten? Ihr Körper zerfloss wie Vanillecreme, es duftete auch danach, und auf einmal fand sie sich in der Küche ihres Elternhauses wieder am Tisch stehen und Mutters Anweisungen aus dem Rollstuhl befolgen.
„Stell dich nicht so dumm an, Laura! Wenn du schon hässlich bist, dann sei wenigstens geschickt und intelligent!“ Sie keifte weiter, während Laura sich nach Kräften bemühte, ansehnliche Weihnachtskekse zu formen. Die Tränen standen in ihren Augen, obwohl sie versuchte, die Beleidigungen zu ignorieren. Mutter litt unter ihrer fortschreitenden Erkrankung. Die Multiple Sklerose zerfraß das Gehirn – so hatte der Arzt es Laura erklärt. Die Schübe kamen mit der Zeit öfter und Mutter war unerträglich bösartig geworden. In guten Phasen tat es ihr leid.
„Ich wünschte es wäre endlich zu Ende. Ich will nicht mehr, Laura“, sagte sie manchmal.
Zwei Jahre danach, Laura war vierzehn, schluckte Mutter eine Überdosis ihres Schlafmittels und starb. Seither quälten Laura Schuldgefühle. Wieso hatte sie nicht gemerkt, dass die Tablettenpackung verschwunden war? Zu den Schuldgefühlen hatte sich die unsägliche Angst vor den Löchern eingestellt, die auch Laura auffressen würden. Schließlich war MS eine Erbkrankheit.

Sie zuckte zusammen.
„Laura, wachen Sie auf!“
Jemand tätschelte ihre Wange, sie riss die Augen auf. Achja, sie war bei diesem netten Therapeuten.
„Habe ich geschlafen?“
„Nein.“ Er lächelte sie an. „Sie haben erzählt.“
„Was denn?“ Sie schämte sich sofort.
„Weshalb Sie die Maske tragen.“
Laura richtete sich auf.
„Wirklich? Wissen Sie jetzt, warum ich verfaule?“
„Weil Sie sehr traurig sind.“
Energisch schüttelte sie den Kopf.
„Überhaupt nicht! Ich habe Angst, aber traurig bin ich nicht.“
„Ich habe eine Hausaufgabe für Sie. Wir müssen Sie in eine Zeit vor die Erkrankung Ihrer Mutter bringen. In eine Zeit, in der alles gut war.“ Franz erklärte, was sie zu tun hätte und schloss: „Ich bin Tag und Nacht für Sie erreichbar.“
„Können Sie nicht dabei sein?“
„Nein, Laura, Sie allein werden es schaffen. Doch im Notfall komme ich.“
Die Stunde war zu Ende, der Therapeut vereinbarte einen Termin für kommende Woche.

Zuhause kramte sie die Fotokiste aus der Abstellkammer. Betrachtete die Bilder nach vielen Jahren. Laura als Baby auf dem Schoß der Mutter in einer zärtlichen Haltung. Da war sie gesund und voller Liebe gewesen. Das Gesicht des Kindes war glatt und kompakt, das der Mutter glich Lauras, wenn sie sich hinter der Maske verbarg.
Sie legte die Bilder weg und ging zum Spiegel im Badezimmer. Ihre Hände schwitzten, als sie die Schminke vom Gesicht wischte. Laura biss die Zähne zusammen und hob den Blick.
„Ich bin fünf Jahre alt, hübsch und gesund“, flüsterte sie.
Die Maden fielen ins Waschbecken, verschwanden im Abfluss.
„Ich bin fünf Jahre alt, hübsch und gesund“, sagte Laura mit zitternder Stimme.
Sie sagte es wieder und wieder, lauter jetzt, als würde sie ein Mantra beten. Jedes Mal schloss sich eines der schwarzen Löcher in ihrem Gesicht. Doch plötzlich schoben sich die schrecklichen Gedanken darüber. Sie hörte die Worte des Arztes von damals: „Eine vererbbare Sache, frisst Löcher ins Gehirn.“ Schon brachen die Krater auf ihrer Haut wieder auf.
„Du hättest auf deine Mutter besser achten müssen, Laura!“, erklangen die Worte ihrer Tante nach dem Selbstmord in Lauras Ohren.
Verzweifelt kroch sie ins Bett.

Gleich in der Früh wählte sie die Nummer des Therapeuten.
„Es geht mir nicht gut.“
„Bringen Sie Ihrer Mutter Blumen. Kommen Sie danach vorbei.“

Laura fuhr zum Grab, sie hatte es seit vielen Jahren nicht mehr besucht. Der Steinrand begann zu bröckeln, die Erde, unter der der Sarg vergraben war, in dem die Mutter lag – ein Schauer lief über Lauras Haut –, war grau und leblos. Sie ging zur Gärtnerei. Besorgte Blumenerde, eine Schaufel und Stiefmütterchen und pflanzte sie ein. Dann lief sie davon, blicklos vor Angst und Schmerz.

„Wir machen die Übung zusammen, Laura.“
Franz stellte sich neben sie vor den Spiegel in seiner Praxis.
„Ich bin fünf Jahre alt, hübsch und gesund“, stammelte Laura.
„Würden Sie die Schminke entfernen?“
„Nein! Das kann ich nicht.“
Schweigend sah er sie an.
Mit zitternden Händen wischte sie alles weg.
Als sie nun den Satz wiederholte, schlossen sich die Löcher.
„Nun wollen wir mal sehen, dass es auch so bleibt.“
„Wenn ich an Mutter denke, geht es wieder von vorn los.“
„Und das werden wir nun beenden.“
Er ließ Laura sich auf eine Matte legen.
„Stellen Sie sich die Last vor, die Sie mit sich tragen, seit Sie vierzehn sind.“
Laura atmete sich mit seiner Hilfe in die Zeit zurück.
„Du bist bestimmt traurig, dass du deiner Mutter nicht helfen konntest.“
Laura zuckte.
„Lass deinen Körper machen, was er will. Als wärst du eine flüchtende Antilope. Der Löwe, der hinter dir her jagt, ist das Schuldgefühl.“
Ihr Leib – ein Muskelpaket, hinter ihr der Verfolger. Schließlich zitterte sie, trommelte mit den Fersen auf die Unterlage, schlug die Fäuste in Kissen.
„Du bist nur das Kind, Laura. Deine Mutter hat eine Entscheidung getroffen, die nichts mit dir zu tun hat.“
Sie presste die Augen zu.
„Mutter war böse zu mir und ich habe sie verwünscht“, schnaufte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Wünsche können nicht töten. Du bist nur das Kind. Und sehr traurig.“
Als hätte Franz mit diesen Sätzen eine Mauer in ihr niedergerissen, brach etwas auf in Laura. Sie weinte und konnte nicht mehr aufhören, bis keine einzige Träne mehr in ihr war.
Erschöpft rollte sie sich auf der Matte zusammen.
„Ich bin nicht schuld“, flüsterte sie.
„Du brauchst bald keine Maske mehr“, sagte der Traumatologe, während er ihre feuchte Stirn streichelte, „das ist der erste Schritt ins Leben.“
Laura berührte ihre Wangen. Sie fühlten sich für einen glücklichen Moment glatt und weich an. Dann spürte sie wieder die Gruben.
„Es ist ein anstrengender Weg. Wollen wir ihn gemeinsam gehen?“, fragte der Therapeut.
„Ja!“
Als Laura aus der Praxis auf die Straße trat, regnete es.
Sie fühlte sich ungewohnt beschwingt, legte den Kopf in den Nacken und spürte die Wassertropfen auf dem nackten Gesicht.

Letzte Aktualisierung: 26.04.2013 - 19.57 Uhr
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