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Unsichtbar | April 2013

Paradiesvogel
von Glädja Skriva

„Ich will raus hier!“

Die Stimme schrillt. Blechern. Angstvoll. Wieder und wieder.

Noch schriller.

Keine Reaktion.

Kein knarzender Schlüssel im Schloss. Kein frischer Luftzug der Freiheit, tief und erlösend inhaliert. Dumpf ist es.

Die Angst überträgt sich. Scharrende Füße. Laut. Lauter. Klappernd. Tam. Tam. Tam. Wie das rhythmische Klopfen einer Gefängnisrevolte. „Raus hier.“ „Raus hier.“ Gefolgt von Satzfetzen. Verworren. Stammelnd.

„Schwester.“

Die Schwester hat mich angerufen. Ein bösartiger Tumor im Bauchraum. Schätzungsweise noch drei Wochen zu leben. Nicht ich. Gott sei Dank. Nein, Tantchen. Tantchen, die schon immer alleinlebend und selbstbestimmt war, ohne Verwandtschaft, außer mir und meiner kleinen Tochter, und ohne Freunde. Wer zündet schon im Alter von 90 Jahren noch eigenhändig ein Kerzchen in einem großen Kreis von Bekannten an?

Als ich das Seniorenstift betrat, um ihr den erbetenen Besuch abzustatten, schlug mir der Geruch von Desinfektionsmittel und frisch verlegtem Linoleumboden entgegen. Das Haus war neu erbaut und sah mit seinen hellen, gelben Fensterrahmen freundlich aus. Etwas, das Tantchen nie wahrgenommen hatte, sie, die nun blind wie ein Maulwurf geworden war. So zeterte sie immer öfter, sie wolle heim. Heim zu ihren Zigaretten, die sie mit knallroten, spitzen Nägeln wie eine verruchte Hure an der Bar in ihrer verqualmten Küche paffte und heim zu ihren Schundromanen, die sie von früher auswendig kannte und in denen sie mit ihren hochverehrten Grafen lebte, deren Liebesglück die Bettpfeiler zu ihrem plüschigen Diwan mit dem abgewetzten Samt bildeten. Und jetzt, da der Tumor wie ein feuerspuckendes Monster sie nur noch Krümelchen von ihrem Teller aufpicken ließ, wollte sie erst recht heim. So forderte sie es. Zunächst schüchtern, leise, dann zögerlich verlangend und schließlich immer lauter, schriller, gehetzter. Ununterbrochen. Stunde um Stunde. Die lethargischen Mitbewohner wurden davon aufgeschreckt und reagierten wie die Wellensittiche, die auf der Pflegestation gehalten wurden. Zur Harmonisierung und Entspannung der Gäste, die jetzt mit verwirrten, kreischenden Flügelschlägen ihren Käfig durchflatterten.

Ich ließ die Schwester Tantchen in den Rollstuhl packen. Oder zumindest das, was noch von ihr übriggeblieben war. Ein paar Knochen, zusammengehalten von einer schmutzigbraunen Polyesterhose und einem Jäckchen, etwas zu groß, da von der Bettnachbarin ausgeliehen, dafür in blütenreinem Weiß. Schließlich fanden sich keine Essensreste mehr darauf. Ihr Atem rasselte verschleimt und schluckte kurz ihr Kreischen. So kam ich schuldbewusst von da an jeden Freitag zwischen Feierabend und dem schnellen Abendeinkauf. Für eine Woche. Für noch einen Monat. Noch eine durchröchelte Nacht. Eine Stunde hielt ich es meist aus, dann war ich froh, sie endlich abgeben zu können an eine Schwester, die ihr den heißen Tee einflößte, an dem ich mir zuvor die Finger fast verbrannte. Bis sie wieder japste. Nach Luft. Befreiung. Und immer noch nach Leben.

„Ich will raus hier.“

Ich konnte es nicht mehr ertragen. „Gut, gehen wir raus“, sagte ich barsch. Ich schob sie zur Pforte, dem Ausgang entgegen. Ihre dünnen Beinchen mit den roten Hautrissen zeigten Gänsehaut unter ihrer viel zu kurz geratenen Hose. Ein für allemal sollte ihr das „Nach-Hause-Jammern“ vergehen, wenn sie die Realität spürte.
„Jetzt sind wir draußen, Tantchen. Ziemlich kalt, was?“ Und da sie nichts sah und kaum noch hörte, brüllte ich: „Ist eben Winter. Noch nicht mal jemand auf dem Spielplatz. Kein Wunder, bei dem Schneematschregen. Die Bäume sehen auch aus wie tot. T-o-t. Kein Fetzchen Farbe. Alles grau. Schmuddelgrau. Ziemlich ungemütlich. Lass uns reingehen.“
Ich schob Tantchen wieder hinein, die erneut zu zetern begann. Sie hatte wohl noch nicht genug gefroren.
Zwei Wochen später musste ich Amelie, meine Tochter, mitnehmen. Es war an diesem Tag nicht anders möglich gewesen. Amelie war früher öfter bei Tantchen gewesen, wenn ich niemanden anderes finden konnte, der auf sie aufpasste. Ich konnte nie verstehen, dass so eine Mumie wie Tantchen sich noch mit so viel Begeisterung mit einem Kind unter dem Tisch verstecken konnte. Schundromane verdarben einfach den Menschen!

„Hallo, Pupsie“, flüsterte Amelie Tantchen ins Ohr.

Ich hörte es genau. „Pupsie“. Wie oft hatte ich Amelie verboten, das zu Tantchen zu sagen. Wie peinlich! Und erst diese verrückten „Um-die-Wette-Pups-Konzerte“, die sie immer mit dieser häßlichen Schlafpuppe veranstalteten.

„Amelie!“

„Soll ich dich spazierenfahren, Pupsie?“ Tantchen nickte, während Amelie sie in eine Decke stopfte. „Schön warm hast du es jetzt.“

„Fährst du mich zum Fenster, Amelie? Dann kann ich meine Wohnung sehen.“

Sehen? Tantchen? Dass ich nicht lache. Wo sie mit ihren Augen noch nicht einmal ihre Fingerkuppen erkennen konnte.

„Es ist Winter, Amelie, nicht wahr? Liegt viel Schnee? Könnten wir wieder zusammen einen Schneemann bauen? Erinnerst du dich noch an den kleinen Schneemann, dem wir den großen Sonnenhut aufgesetzt haben ...?“

Einem Schneemann einen Sonnenhut aufzusetzen. Das konnte auch nur den beiden einfallen. Dass die zwei aber auch immer so dicht zusammenrücken mussten: „Amelie, lass das! Musst du deine Hand immer so auf Tantchens Arm legen?“

„Nein, Pupsie, es ist kein Winter. Die Sonne scheint nämlich. Sogar hier, auf deinen Arm. Das ist schön warm, oder?“

Das gab es doch nicht. Reckte Tantchen tatsächlich den Kopf so in die Höhe, als wolle sie sich sonnen?

„Oh, da draußen gibt es sogar einen Spieli, Pupsie. Der hat sogar zwei Schaukeln. Da können wir wieder einmal zusammen schaukeln. Und Verstecken spielen. Weißt du was, ich zähle auf 10. So, wie immer. 1 – 2 – 3 - ... Wo bin ich, Pupsie?“

Als ob Tantchen in ihrem Rollstuhl Verstecken spielen könnte – so kurz vor dem Sterben! Die hatten doch einen Vogel.

„Oh, da sind ja Wellensittiche, Pupsie. Können die sprechen? Sag mal: „Pu - psie“. „Pu - psie.“

„`Pupsie` können sie nur ganz leise sagen, Amelie. Das kann nicht jeder hören. Aber höre einmal genau hin. Hat da nicht gerade einer „Amelie“ gepfiffen?“

„Der kennt mich?“

„Ja, das ist nämlich ein ganz besonderer Vogel. Das ist ein – `Paradiesvogel`.“

„Ein Paradiesvogel?“

„Ja, allerdings kann das nicht jeder erkennen. Manche denken, er sei nur ein ganz normaler Wellensittich. Aber schau einmal genau hin, Amelie. Pst, der hat sich nur verkleidet. In Wirklichkeit ist es ein kleines, plauschiges Kerlchen mit dicken, warmen, weich aufgeplusterten Federn wie ein rotes Wattebällchen. Er kommt meist nachts zu mir geflogen. Nachdem er den Käfig aufgesperrt hat. Ich höre seine Flügel schlagen. Ganz leise. Und dann sehe ich ihn sogar. Erst verschwommen, dann immer klarer mit dem Zaubermonokel, das er mir vor das Auge gestupst hat ... damit kann ich bis in seine Wohnung blicken. Bis ins Paradies.“

„Mit einem Zaubermonokel?“

„Ja, und meistens trippelt er auf meiner Bettstange hin und her, weil er so aufgeregt ist wegen des Geheimnisses, das er mir ins Ohr wispern will; nämlich ... “

„... dass liebeshungrige Grafen sich nur in alte Frauen mit Dreifach-Kinn verlieben ... Und der Paradiesvogel hat sicher auch goldene Federn im Hintern stecken. Das ist doch alles Quatsch, Tantchen. Was erzählst du denn wieder!“

„Aber Pupsie, das musst du mir noch erzählen. Dieser Paradiesvogel, der kommt sicher von ganz, ganz weit her. Oder? Kann der auch in den Himmel malen?“

„So, Schluss jetzt. Für heute reicht es endgültig! Amelie. Sag mal Tantchen schön Auf Wiedersehen.“

„Pupsie ...“

„Ich will raus hier.“

Jetzt hatten wir den Salat. Tantchens Stimme klang noch schriller als sonst. Die Wellensittiche kreischten ängstlich auf. Ich würde den Pfarrer für die letzte Ölung bestellen müssen.

Am 29. April verstarb Tantchen, ungeölt, mit, wie die Schwester meinte, folgenden letzten Worten auf den Lippen: „ ...“
„Sicher mit: `Ich will raus hier`“, unterbrach ich sie und fügte lakonisch hinzu: „Und das klappte ja dann auch endlich.“
„Nein“, hüstelte es am anderen Ende der Leitung, „es war das Wort `Paradiesvogel`.“
Ich wusste schon immer, dass Pillen Halluzinationen erzeugten und Amelie knöpfe ich mir einmal vor!“



© P.S./Glädja Skriva/April 2013/3. Version

Letzte Aktualisierung: 20.04.2013 - 06.47 Uhr
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