Diese Seite jetzt drucken!

Unsichtbar | April 2013

Die verschwundene Elfe
von Wolf Awert

Der mittlere Raum des Begegnungszentrums trug den Namen Europasaal. Die Bühne für die Abendvorstellung war bereits installiert, und um die Bestuhlung würde man sich später kümmern. Eilig hin- und herlaufende Assistentinnen und Techniker schenkten der Bühne einen Vorgeschmack von Leben, in dessen Mitte ein ungleiches Pärchen stand. Magnifico der Große hielt im linken Arm seine junge Frau Regina, während er mit der rechten Hand knappe Anweisungen gab.

Magnifico beherrschte die Mitte durch seine bloße Anwesenheit. Vielleicht war er in seiner Jugend einmal schön gewesen. Jetzt musste er die Masse seines Körpers durch einen magentaroten Umhang kaschieren, und ein breitkrempiger Hut verdeckte erste Lücken im grauen Haar. Doch solche Äußerlichkeiten nahmen ihm nichts von seiner Ausstrahlung.

Die Vorhänge vor den Oberlichtern waren noch nicht zugezogen, sodass die Provinzsonne dem hektischen Treiben zuschauen konnte. Am Abend würden es dann die Bürger sein, die hier staunten. Hoffentlich, dachte Magnifico.

Ein Harlekin probte Purzelbäume und schlug Räder. Einmal, zweimal, dreimal - bis er mit dem letzten Sprung vor Magnifico landete und den Meister respektlos angrinste.

„Hilf lieber den Käfig aufzubauen, anstatt hier herumzukaspern, Viktor. Da lernst du wenigstens etwas. Die Kunst jeder Illusion liegt in der perfekten Vorbereitung.“

„Ja, ja, und in der Ablenkung im Vordergrund. Ganz ehrlich, Meister. So originell ist das nicht.“

Da war ein Zucken der Irritation in Magnificos Gesicht, das sich nicht unterdrücken ließ.

„Und ich glaube auch nicht, dass ich von dir noch etwas lernen kann. Ich arbeite bereits an meinen eigenen Illusionen. Neue werden sie sein und andersartig. So, dass sie zur heutigen Zeit passen. Deine Zeit, mein Lieber, ist schon lange vorbei ist. Und wenn du deine Frau, die unvergleichliche Elfenkönigin Regina, nicht hättest, dann taugtest du noch nicht einmal mehr für die Provinz.

Das waren viele Worte, und Magnifico atmete hörbar ein.

„Hör gar nicht hin, Liebster“, sagte Regina, die sich an ihren Mann gelehnt hatte und die Härte der verkrampften Muskeln unter ihren Händen spürte. Aber Magnifico hörte hin und konnte und wollte diese Respektlosigkeit nicht hinnehmen.

„Ich bin schon überall in Europa aufgetreten, als du noch in den Windeln stecktest, du großspuriger Lümmel. Leiste erst einmal was, bevor du den Mund aufmachst.“

„Ja, Paris und Rom. Früher. Und jetzt verzauberst du die Menschen hier in Helmskirchen.“

„Das reicht. Du kannst dir deine Papiere holen.“

Viktor quittierte seine Kündigung mit einer übertrieben höfischen Verbeugung und verabschiedete sich mit einer Reihe von Flic Flacs.

„Wir werden ein wenig improvisieren müssen heute Abend. Aber er ist kein Verlust für uns, mein Schatz“, sagte Magnifico noch, als er dem jungen Mann hinterherblickte.



Der Europasaal von Helmskirchen war gut gefüllt und Magnifico endlich wieder einmal zufrieden. Dass Viktor sich in die erste Reihe gesetzt hatte und dort in seinem unscheinbaren, gedeckten Straßenanzug kaum auffiel, störte ihn nicht. Magnifico spulte sein Programm ab, wie schon tausendmal zuvor und zwischen den einzelnen Nummern tanzte Regina klassisches Ballett in weißem Trikot mit funkelndem Strass. Immer wieder kam sie ihrem Meister, dem großen Magnifico, in die Quere, der sie vergeblich zu verscheuchen suchte. Das Publikum lachte. Wie sollte es auch wissen, dass die Elfenkönigin sonst an dieser Stelle mit dem Harlekin Fangen spielte. Es wartete ohnehin nur auf die grandiose Schlussnummer, in der die Königin des Lichts in der Unterwelt verschwand und aus ihr wieder errettet wurde.

Unter dumpfen Trommelschlägen wurde ein Käfig auf die Bühne gerollt. Das Licht der Scheinwerfer trübte sich gelblich. Doch bevor auch nur der Verdacht aufkommen konnte, hier geschähe etwas im Schutz der Dunkelheit, knallte es dreimal, und mit jedem Knall tauchte ein Spotlight erst Magnifico den Großen, dann Regina, die Königin der Nacht, und zum Schluss und den Käfig in ein grelles Licht.

Die Königin verspottet den Magier, der jagt sie über die Bühne, kommt aber immer einen Schritt zu spät. Die Einsicht, nicht schnell genug zu sein, lässt ihn endlich stehen bleiben. Er streckt seinen Arm aus. Ein Donnerschlag - und die Elfe kommt wie an Fäden gezogen auf den Magier zu. Mag sie sich auch noch so wehren. Und in seinem Griff gibt es dann kein Entkommen mehr. Magnifico zieht sie hinter sich her und sperrt sie in den Käfig. Die Elfe tanzt Erbarmen. Der Magier zeigt Regung und dreht sich ein letztes Mal zu ihr um. Er reißt sie in seine Arme und küsst sie. Aber dann schließt er doch die Käfigtür, dreht ihr den Rücken zu und schaut unbewegt ins Publikum.

Schnell umhüllen die Assistentinnen den Käfig mit schwarzen Tüchern der Trauer. Magnifico hebt den Arm und es wird still. Jetzt steht er in seinem Lichtkegel, bis er den Arm senkt, und die Assistentinnen die Tücher wieder entfernen. Die Elfenkönigin ist verschwunden.

Während der Käfig nach vorn gezogen und im hellen Licht der Strahler einmal um seine Achse gedreht wird, um zu zeigen, dass es keinen versteckten Ausgang gibt, erklingen Geigen. Der Magier geht unruhig auf der Bühne hin und her, vergräbt das Gesicht in den Händen, rauft sich die Haare in verzweifelter Reue, bis er endlich ein Zeichen gibt, und der Käfig erneut verhüllt wird.

Ein zweites Mal werden die Tücher zurückgezogen, und Nebel steigen aus dem Käfigboden auf. In dem Käfig bewegt sich eine unscharfe, geisterhaft weiße Gestalt. Die Musik wird lauter, der Nebel dünner, die Umrisse schärfer, als ein gewaltiger Knall die grelle Fanfare einer Trompete zerreißt und verstummen lässt. Stille. Doch die Gestalt tanzt weiterhin in dem sich verziehenden Nebel.

Magnifico steht erstarrt. Dann rennt er mit langen Schritten auf den Käfig zu, reißt die Tür auf und beginnt, mit der Gestalt zu kämpfen. Erst würgt er sie, dann drückt er die Gestalt so zusammen, bis sie am Ende zwischen seinen Händen verschwindet. Der Nebel verzieht sich. Das letzte Bild zeigt Magnifico auf den Knien, die Hände zum Gebet erhoben, bis die barmherzigen Assistentinnen den Käfig erneut bedecken.

Unter dem Lärm der wieder einsetzenden Musik beginnen die Tücher zu flattern, machen sich selbstständig, fallen zu Boden. Der Käfig ist leer und wird von der Bühne gezogen.

Es dauert unverständlich lange, bis Magnifico wieder auf die Bühne kommt, um den Applaus entgegenzunehmen. War er sonst immer aus dem Bühnenhimmel auf die Erde herabgeschwebt, kam er an diesem Abend aus dem Dunkel des Bühneneinganges. In der Hand hielt er ein zusammengeknülltes Bündel Seidenstoff, dem zuvor Druckluft und Nebelschwaden noch ein eigenes Leben verliehen hatte, und seine Augen starrten auf einen nun leeren Sitz in der ersten Reihe. Nur seine Verbeugung war immer noch ohne Tadel.

Hinter dem Begegnungszentrum von Helmskirchen konnten Passanten in der Dunkelheit des Abends einem vereinzelten Paar begegnen, das sich eng umschlungen hielt. Er, in einem unscheinbaren, gedeckten Straßenanzug, sie mit langem, schwarzem Samtmantel und einer Kapuze, die das blonde Haar beinahe vollständig verdeckte. Das einzig Auffällige an ihr waren die Ballettschuhe, die auf dem rauen Pflaster wohl nicht lange halten würden.

Letzte Aktualisierung: 09.04.2013 - 09.00 Uhr
Dieser Text enthält 7335 Zeichen.


www.schreib-lust.de