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Unsichtbar | April 2013

Extempore
von Martina Lange

Die Sonne versinkt in Wolken aus fließendem Gold. Der Westwind, allgegenwärtiger Hüter, treibt sie wie eine feuchte Herde vor sich her und trägt das goldene Leuchten in jeden Winkel der Hochebene.
Schimmernd streifen sie sanft über die Felder, kämmen sich an den Baumkronen ihre Kleider.
Doch schon drängt der Wind sie wieder zusammen und sie gleiten hinab in die tiefen Mulden, gefaltet vom urzeitlichen Eis. Ein Hügel reiht sich an den nächsten, scheinbar ohne Ende. Sanft streben sie zum bewaldeten Horizont, fliehen hinunter zum Fluss, der sich in vielen Äonen durch Muschelkalk und Sandstein sein tiefes Tal gegraben hat.
Der Blick schweift über die Weite hinweg, gaukelt frei hinauf zum Milan, der lautlos seine entfernten Kreise zieht, im leuchtenden Himmelsblau. Seine Freiheit ist Blau und Gold und weiter, viel weiter noch als meine.
Ich bin gebunden an die Freiheit unter mir. Und muss ihr folgen. Ist sie auch schmal wie die Straße, die sich, gleich einer verlorenen Schnur, durch diese Landschaft schlängelt. Sie zieht an mir vorüber, entlang den wogenden Feldern. Ein Meer aus federndem Grün und verbleichendem Gelb. Weizenähren und Raps, gesäumt von Reihen alter Linden, die ihre windzerzausten Äste mit flaumigen Blattwerk schmücken.
Am Himmel glänzt der erste Stern und in der Abendluft verbreiten die Myriaden von Blüten ihren klebrig tropfenden Duft. Warm ist der Wind und übervoll. Gesättigt vom Aroma dieses alten Berges regen sich die Stimmen der Vergangenen. Lieder der Erinnerung klingen leise, und schwer wird der Schlag meines Herzens. Durchdringt mein Sein vom Kopf bis zu den Füßen. Ich erspüre jede verborgene Wurzel in der lebendigen Erde, folge den frischen Trieben ins Geäst, und reite auf den gelben Stäuben von Blüte zu Blüte.
Hier soll ich sein, wo auch sie atmen und wachsen, die duftenden Herzbäume. Sie und ich.
Tief atme ich ein und will, dass all dies Heimat ist, in mir. Der goldene Duft und die schwingende Freude. Sie füllen meine Lungen bis zum Bersten. Und ich atme aus den frühen Sommer über das Land.

Letzte Aktualisierung: 25.04.2013 - 20.13 Uhr
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