Der himmelblaue Schmengeling
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Berge versetzen | Mai 2013
Der Zauberring
von Wolf Awert

Sabine suchte in ihrem Kleiderschrank etwas Passendes zum Anziehen. Vollgestopft, wie er war, enthielt er wie üblich kein einziges brauchbares Stück. Andreas hatte sie zum Mittagessen eingeladen. Er musste doch wissen, wie schwierig es war, tagsüber für ihre Kleine einen Babysitter zu finden.

Sabine entschied sich für einen grauen, leicht glänzenden Rock und eine weiße Bluse. Das sah unverfänglich genug aus.

„Geht ihr eigentlich miteinander?“, war sie neulich von ihrer Freundin Claudia gefragt worden.
„Wir sind befreundet.“ Mehr wollte sie nicht sagen, und Claudia hatte nur den Kopf geschüttelt.

Jetzt noch die Schuhe. Sabine kickte ihre Sandaletten in die Ecke. Flach war zu sportlich, die Pumps waren eher für abends. Am besten die schwarzen Halbhohen. Die brachten ihre Hüften ganz gut zur Geltung und ließen gleichzeitig die Füße am Leben.

Seit ungefähr einem Jahr gingen sie hin und wieder zum Tanzen und lachten auch mal über dieselben Filme. Wie gute Freunde. Sie hatten Händchen gehalten und ein wenig geschmust. Das taten gute Freunde normalerweise nicht.

Fast mechanisch zog Sabine ihre Lippen nach. Für ein Make-up war der Anlass nicht groß genug. Hinterher reichte die Zeit gerade mal wieder für einen Hamburger oder Hähnchenflügel extrakross. Für einen zögerlichen Atemzug hielt Sabine inne. Dann entschied sie sich doch noch für den Lidstrich.

Manchmal hatte sie das Gefühl, Andreas ganz nahe zu sein. Aber dann war da wieder diese Distanz zwischen ihnen. Und nie hatte er so richtig Zeit. Ich will mich selbständig machen, sagte er immer wieder. Das kostet Zeit, das kostet Geld, und leben muss ich auch von irgendetwas. Immerhin schien es ihm nichts auszumachen, dass sie eine Tochter hatte. Und dass er hinter der Kleinen manchmal zurückstehen musste. Sabine zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Andreas erwartete sie an der U-Bahn Station, nahm sie in den Arm und führte sie ins Café am Ring. „Ich nehme einen Bienenstich“, sagte Andreas, „aber die haben auch Sandwich.“

Sabine war dankbar, dass sie nicht das einfarbige Kostüm angezogen hatte. Dann wäre der Unterschied noch deutlicher geworden. Andreas hatte sich Mühe gegeben, aber gelb-braun karierte Hosen passten nicht so richtig zu einem blauen Blazer und schon gar nicht, wenn man auch noch einen gestreiften Pullover darunter trug. Aber das war es nicht. Andreas trug heute einen Ring. Und was für einen. Golden und breit und obenauf ein Totenschädel mit gekreuzten Knochen. Er sah aus wie auf der Kirmes gewonnen oder aus einem Kaugummiautomaten gefallen.

Andreas war ein hoffnungsloser Fall. Sabine seufzte auf. Das führte doch alles zu nichts.

„Einen schönen Ring trägst du da“, sagte sie.
„Gefällt er dir?“
Andreas hob seine Hand und ließ den Ring im Licht der Kristalllüster funkeln.
„Ist ein Erbstück. Mein Onkel hat ihn von seinem Vater geschenkt bekommen. Woher der ihn hatte, weiß ich nicht, aber mein Onkel hat ihn an mich weitergereicht, als ich achtzehn wurde. Es ist ein besonderer Ring.“

Sabine machte übertrieben neugierige Augen, und Andreas beugte sich mit Verschwörermiene zu ihr hinüber.
„Es ist ein Zauberring.“

Sabines Lachen klang silberhell.
„Pssst, muss ja nicht jeder hören.“
„Andreas, jetzt willst du mich auf den Arm nehmen.“
„Nein, nein. Er hat die Kraft. Immer schon gehabt. Hör zu.
Mein Onkel war damals fünfzehn und ging im zweiten Lehrjahr zu einem Dachdeckermeister im Nachbarort. Es war Sonntag. Den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen, aber gegen Mittag kamen die ersten Wolken, wurden immer schwärzer, und dann begann es zu schauern.

Und zwischen zwei Schauern hörte mein Onkel dann die Schreie. Ein kleines Mädchen aus dem Haus gegenüber war aus einer Luke auf das Dach geklettert und hatte dort gespielt. Jetzt war es nass und fror und wollte wieder rein. Sie saß in einem kleinen Winkel zwischen Dach und Schornstein und alle riefen: ‚Halt dich fest’.“

Sabine musste schlucken. Kleine Mädchen gehören nicht aufs Dach, und sie hoffte, dass sie daheim alle Fenster gut zugemacht hatte.

„Die Leute hatten die Feuerwehr benachrichtigt, aber im Nachbarort hatte der Blitz eingeschlagen, und die Feuerwehr löschte eine Scheune, die randvoll mit Heu und Stroh vom letzten Jahr gepackt war.

Mein Onkel stand bei den anderen Leuten im Dorf. Es regnete immer heftiger. Das Gewitter kam jetzt auch zu uns und der Wind wurde böig. Keine Standleiter reichte bis zum Kamin, und die Dachluke war zu schmal für einen gestandenen Mann. Außerdem war das Dach aus Schiefer. Mit Moosflecken drauf. Wie Schmierseife, sagte mir mein Onkel später.

Da ist mein Onkel in das Schlafzimmer seiner Eltern gegangen und hat aus dem Nachttisch seines Vaters den Ring geholt. Und den hat er sich auf den Daumen gesteckt. Weil, die anderen Finger waren noch zu schmal. Ja, und dann ist er rauf auf das Dach und hat das Kind da runtergeholt. Freihändig. Ohne Sicherung. Denn sein Zeug lag beim Meister. Nur gute Schuhe, die hatte er.“

„Das war wirklich mutig“, sagte Sabine. Was hätte sie auch sonst sagen sollen.
Andreas nickte bedächtig. „War eine Sache auf Leben und Tod.“

Andreas drehte an dem Ring. Seine Hände waren groß und stark genug für den Ring.
„Ich dachte, ich setze ihn heute mal auf.“

Sabine wartete, sah, wie Andreas sich quälte, weil es ihm nicht gelingen wollte, die passenden Worte zu finden. Doch es war ihr egal, wie er es sagen würde. Sie hatte sich entschieden.


Version 2

Letzte Aktualisierung: 16.05.2013 - 23.17 Uhr
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