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Berge versetzen | Mai 2013

Guten Morgen, Emily
von Ingeborg Restat

„Guten Morgen, Emily. Herzlichen Glückwunsch …“ Albert steht in der Zimmertür. Ein falscher Schritt, ein Stolpern, ein Taumeln, der kleine Napfkuchen mit der brennenden Geburtstagskerze fällt ihm aus der Hand und die Kerze erlischt am Boden. Noch ein letzter unsicherer Schritt ins Zimmer, er findet keinen Halt, fällt und stürzt mit dem Kopf auf die Kante eines Stuhles, der polternd umfällt.
„Albert!“, schreit Emily auf und greift über sich nach dem Haltegriff, der an einem Galgen über ihrem Bett hängt. Sie zieht sich daran hoch. Doch wozu? Ihre Beine kann sie nicht aus dem Bett bewegen. Sie ist durch einen Unfall gelähmt und Albert versorgt sie seit vielen Jahren. Obgleich sie nicht mehr jung sind, reicht seine Kraft noch, sie jeden Morgen aus dem Bett zu heben und in den Rollstuhl zu setzen. Doch nun liegt er dort am Boden und bewegt sich nicht.
„Nein, nein!“, jammert sie. „Albert, bitte, Albert, wach auf!“
Ist es Blut, das unter seinem Kopf hervorsickert?
„Das darf nicht sein, Albert!“ Hilf- und ratlos lässt sie sich zurückfallen. Unruhig wandert ihr Blick durch das Zimmer. Was kann sie nur tun? Das Telefon, sie muss Hilfe herbeirufen. Doch sie greift vergebens auf ihren Nachttisch. Wo ist es? – Es liegt mitten im Zimmer auf einem Tisch, für sie unerreichbar.
„Albert, Albert, du musst zu dir kommen, du musst!“
Als hätte er es gehört, öffnen sich seine Augen. Verwirrt schaut er um sich, hebt den Kopf und fasst sich an die Stirn. Ein Rinnsal von Blut läuft über sein Gesicht.
„Du hast dich verletzt. Ist es schlimm?“
„Nein, nein, nur eine kleine Wunde“, sagt er, will sich aufrichten, schreit auf und fällt zurück.
„Albert, was ist?“
„Mein Bein, meine Hüfte, ich kann nicht mehr aufstehen.“
„Und was jetzt?“
„Nimm das Telefon und ruf den Notdienst an.“
„Es liegt nicht bei mir, sondern auf dem Tisch.“
„Verdammt!“
„Du liegst fast darunter, brauchst vielleicht nur hochzugreifen.“
Er versucht es, stöhnt, fällt wieder zurück. „Es geht nicht!“
„Was nun?“
Sie schauen sich an, schweigend. Sie wissen es beide, niemand wird sie vermissen oder nach ihnen suchen, hier in ihrem Haus mit dem kleinen Garten, wo sie seit Jahren zurückgezogen leben. Gärtner und Haushaltshilfe kommen nur gelegentlich und sind gerade erst da gewesen. Wie lange würde es dauern, bis sie jemand findet?
„Albert, das kann nicht sein? Wir können doch nicht …“
„Nein, nein, warte! Lass mich überlegen.“
Kinderlachen draußen, Stimmengewirr, Hundegebell.
„Da gehen gerade Leute vorbei“, sagt Emily und ruft sogleich so laut sie kann: „Hilfe! Hilfe!“
„Das nützt nichts“, sagt er.
Sie aber ruft so lange, bis die Schritte verklingen. Doch er hat Recht, die Leute haben sie nicht gehört und gingen vorbei.
„Albert, sag, dass es nicht sein kann, bitte. In vier Wochen ist unsere goldene Hochzeit. Die Kinder kommen dazu aus Kanada“, bettelt sie.
„Bleib ruhig, komm! Den Nachbarn wird es sicher bald auffallen, wenn sie uns nicht mehr im Garten sehen. Dann werden sie klingeln und fragen“, antwortet er.
„Und du gehst und machst ihnen auf?“ Emily schüttelt ihren Kopf. „Sie werden denken, dass wir verreist sind, so fremd, wie wir uns geblieben sind.“
„Du wolltest doch keine Freundschaft mit ihnen.“
„Willst du mir das jetzt vorwerfen?“
„Lass uns nicht noch streiten, Emily.“
„Ja, das wäre das Letzte. Was also bleibt uns zu tun?“
„ … warten, Emily, und darauf zu vertrauen, dass uns ein Zufall zu Hilfe kommt.“
„Das ist nicht dein Ernst. Dort liegt das Telefon. Einer von uns muss es nur erreichen, dann ist alles andere keine Frage mehr. Willst du es nicht noch einmal versuchen?“
„Emily, ich kann mich nicht einmal mehr bewegen, ohne vor Schmerzen zu schreien.“
„Gut, dann muss ich es tun.“
„Emily, nein, mach keinen Unsinn! Uns ist nicht damit geholfen, wenn du auch noch aus dem Bett stürzt.“
„Ich stürze nicht.“ Damit zieht sich Emily wieder an dem Haltegriff über ihrem Bett hoch. Sacht schwingt sie mit ihrem Oberkörper hin und her, bis sie am Bettrand liegt.
Der Rollstuhl steht ein Stück von ihr entfernt, sie muss ihn nur heranziehen. Mit einer Hand hält sie sich an dem Griff fest, mit der anderen lehnt sie sich aus dem Bett so weit sie kann. Da, sie hat ihn fast, stößt ihn schon an, dass er sich bewegt. Doch sie bekommt ihn nicht zu fassen. Nur noch ein kleines Stück fehlt. Der Arm am Haltegriff wird ihr lahm. Sie gibt nicht auf, reckt sich noch weiter aus dem Bett. Die Beine halten sie nicht, sie rutscht …
„Emily, du fällst!“
Doch, zack, sie hat ihn. Jetzt hängt sie fast zwischen Rollstuhl und Bett. Mit aller Kraft sich an dem Griff haltend zieht sie sich zurück auf das Bett und dabei den Rollstuhl ein Stück mit.
„Bitte, lass das, Emily! Du kannst das unmöglich schaffen. Das geht nur schief.“
„Mach mich nicht verrückt!“ Unbeirrt zieht sie weiter an dem Rollstuhl. Leider muss sie ihn seitlich heranziehen.
„Wie willst du das hinbekommen? Du kannst ihn nicht drehen.“
„Ich kann! Und ob ich das kann!“ Der Arm, mit dem sie sich am Haltegriff festhält, zittert vor Anstrengung, aber sie gibt nicht auf. Sie zieht und zieht. Langsam, ganz langsam holt sie den Rollstuhl heran, bis er dicht an ihrem Bett steht.
Für einen Moment liegt sie erschöpft auf der Bettkante.
„Wenn ich doch bloß helfen könnte!“, jammert Albert. Er fasst nach einem Tischbein, versucht sich vorwärts zu ziehen. „Nein, nein, nein! Ich halte das nicht aus“, stöhnt er und gibt auf.
„Hör auf damit und bleib liegen! Wenn du dir etwas gebrochen hast, machst du es nur noch schlimmer.“ Sie greift mit einem Arm über ihre Brust zur Bettkante und zieht sich, so weit sie kann, auf die Seite. Jetzt ist ihr möglich, mit beiden Armen nach dem Rollstuhl zu greifen.
Gespannt schaut ihr Albert zu.
Sie schafft es, sie dreht den Rollstuhl zu sich hin.
„Stell ihn fest! Versuche nicht rüberzukriechen, ohne ihn festzustellen“, mahnt Albert erregt.
„Ja, ja!“, murmelt Emily. Sie schafft auch das. Dann klammert sie sich daran fest und versucht Stück für Stück in den Rollstuhl zu kommen.
„Er kippt, er kippt!“, schreit Albert.
„Er kippt nicht, er wackelt.“ Emily lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Nur noch ein Ruck, ein Stück und sie würde so gut wie möglich im Rollstuhl sitzen. Doch der Druck darauf ist jetzt so gewaltig, dass er droht selbst im festgestellten Zustand unter ihr wegzurutschen.
„Ich kann gar nicht hinsehen!“, klagt Albert voller Angst und Sorge.
„Dann schau nicht her“, antwortet Emily, klammert sich fest an die Rückenlehne und schafft auch noch den entscheidenden Ruck.
Jetzt sitzt sie im Rollstuhl, wenn auch schief und auf der Kante. Das ist zwar unbequem, doch sie kann in die Räder greifen. Langsam rollt sie zurück und zieht dabei ihre Beine aus dem Bett. Etwas verdreht fallen sie zur Erde. Fast zieht es sie selbst dabei hinunter – aber nur fast. Langsam rollt sie rückwärts zum Tisch, die Beine schleifen am Boden nach. Hier dreht sie den Rollstuhl so weit, dass sie das Telefon greifen kann.
Nun ist es einfach, um Hilfe zu bitten. „Sie kommen so schnell sie können“, erklärt Emily danach mit Tränen der Erleichterung in den Augen und legt das Telefon wieder auf den Tisch.
In diesem Moment ist es, als ob sie all ihre Kräfte verlassen. Ganz langsam, fast in Zeitlupe, rutscht sie aus dem Rollstuhl genau neben Albert zu Boden.
Da liegen sie nun, zwei hilflose alte Menschen. Sie halten sich an den Händen fest und lachen, ein befreites Lachen.
„Mein Teufelsweib!“, sagt Albert.
„Wie gut, dass es bei mir nur die Beine sind, die versagen“, stellt Emily fest.
Und Albert meint: „Ich kann nicht glauben, was du eben getan hast.“
„Ich auch nicht, Albert.“
„In der Not schafft man eben Dinge, die sonst unmöglich sind. Man sagt ja, Not und Glaube kann Berge versetzen. Du hast es gerade bewiesen.“ Sacht streicht er ihr über das graue Haar.
In der Ferne ist bereits das Signalhorn des Rettungswagens zu hören.
„Hörst du, Albert, sie kommen, um uns hier herauszuholen. Wir müssen nicht verdursten und verhungern.“

Letzte Aktualisierung: 22.05.2013 - 13.20 Uhr
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