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Berge versetzen | Mai 2013

Vermittlung
von Jochen Ruscheweyh

„Laut unserem Backoffice sind die Werte schlecht.“
Ich beobachtete Neukamp, wie er dort hinter dem Pult stand, in seinem weißen, weit aufgeknöpften Hemd, sonnengebräunte Haut unter üppigem Brusthaarteppich, dichter Oberlippenbart. Was gesichtsabwärts zu viel an Haar spross, fehlte ihm auf dem Kopf. Trotz seines Balearen-Lifestyle-Looks gehörte er zu der Sorte Menschen, die einen allein durch ihr Auftreten und ihre Präsenz einschüchtern konnten.
„Das bedeutet, dass Sie ab sofort 10000 Punkte für die Vermittlung benötigen.“
Neukamp ließ seinen Blick durch die Reihen wandern.
Kein Raunen, kein Stühlerücken, nur ein paar betretene Gesichter, andere schauten zu Boden.

Etwas zog Neukamps Aufmerksamkeit auf sich. Es musste irgendwo über ihm sein, so wie er es mit den Augen verfolgte. Schließlich hob er eine Hand, wischte einige Male durch die Luft und nickte dann - wie zur Bestätigung, das Problem gelöst zu haben.
„Je mehr Sie sich ins Zeug legen“, fuhr er fort, „desto eher werde ich Ihnen die Vermittlung für den ersten Arbeitsmarkt zusagen können.“
„Und bei der nächsten Gelegenheit setzt er die Punktegrenze weiter hoch“, flüsterte mir meine Platznachbarin zu.
Neukamp erfasste die Störung einem Sensor gleich: augenblicklich und gründlich. Sein Blick bewegte sich in unsere Richtung und ruhte dann wie ein Spot auf der Frau neben mir, bestrahlte sie mit der Art Aufmerksamkeit, von der sich niemand wünscht, dass sie einem zuteilwird.

Er trat hinter seinem Pult hervor, schritt den Mittelgang entlang und bog in unsere Reihe ein. Ich zog meine Beine instinktiv an, obwohl zwischen den Reihen ausreichend Platz war. Ehrerbietungsbekundungen hatten früher nicht zu meinem Naturell gehört, aber auch ich wollte endlich vermittelt werden.

Neukamps Latschen schlugen beim Gehen mit einem gerade eben wahrnehmbaren Schnalzen gegen seinen unteren Fersenbereich.
Der ihn wie eine Aura umgebende Geruch von Sonnenmilch, Olivenöl und einer Spur Schweiß drängte sich einem Vorboten gleich durch die Reihe und erreichte mich, noch bevor er selbst vor uns stand.

Mein Gehör versuchte, die Stille, das akustische Vakuum, das uns umgab, zu kompensieren und wurde in dem hellen Ticken von Neukamps schwerer Pilotenuhr fündig, die locker an seinem Handgelenk baumelte. Ich zählte in Fünfer-, dann in Zehnerkolonnen, ich erinnere mich nicht, wie oft. Nach einer Weile mischte sich ein neues Geräusch hinzu. Ein Brummen oder Summen, der schnelle Flügelschlag eines Insektes.

Neukamp berührte das Kinn meiner Platznachbarin und hob ihren Kopf an. Mit einem schwungvollen Ruck ähnlich wie man sich Pflaster von der Haut zieht, löste er den Leukosilk-Streifen, den wir alle trugen, von ihrer Bluse und las: „Anita“
So, wie er es tat, klang ihr Name nicht mehr nach einem Namen, sondern wie ein Fehlverhalten.
„Wenn Sie sich selbst betrachten, was sehen Sie dann?“
Er legte eine Hand an sein Ohr. „Ich höre nichts. Ah, ich verstehe, Sie sagen nichts, weil Sie ein Nichts sind, ein Niemand. Sie besitzen nicht die Power, Dinge zu verändern! Warum sollte ein Arbeitgeber auf dem ersten Arbeitsmarkt jemanden wie Sie einstellen?“ Neukamp hielt sich erneut die Hand an sein Ohr. „Wieder nichts? Richtig! Es gibt kein Argument, das für Sie spricht.“
Auch wenn unsere Stühle gut zwei Fuß breit auseinanderstanden, konnte ich sehen, dass sich eine Gänsehaut auf Anitas Unterarm bildete.

„Schauen Sie doch einmal in den Spiegel. Sie sind fett, hässlich, alt und verbraucht.“
Spätestens an diesem Punkt war die Grenze erreicht. Jemand musste aufspringen und ihm Einhalt gebieten.
Keiner erhob sich.
Und auch ich blieb sitzen. Meine Angst vor Neukamps Einfluss, vor dem, was er mir für die Zukunft verbauen, auf welche Listen er mich setzen, in welche Subseminare er mich verbannen könnte, war größer als meine Courage, und vibrierte wie ein bedrohlich intensiver Ton in mir. Ähnlich dem Summen des Insektes, das sich, der Lautstärke des Flügelschlags nach zu urteilen, ganz in der Nähe befinden musste.

„Sie sind eine Gefangene Ihrer Ängste. Sie limitieren sich, weil Sie nicht die Kraft der deduktiven Imagination nutzen. Nehmen wir dagegen“ - Neukamp streckte die Hand aus und strich die Stelle an meinem Hemd glatt, auf der sich der Leukosilk-Streifen mit meinem Namen befand – „Lukas.“
Ich hatte das Gefühl, mein Pulsschlag würde unter der Haut meiner Handgelenke sichtbar werden, geradeso als wäre das im Raum herumirrende Insekt durch eine Öffnung in meinen Körper eingedrungen und suche nun unterhalb meiner Handwurzel wieder die Freiheit.
„Wie alle jungen Männer bevorzugt er wohlproportionierte, gutaussehende Frauen. Gehen wir da konform, Lukas?“
Ich musste an Lisa denken und wie sehr sie sich meine Vermittlung gewünscht hatte, und dass alle unsere Probleme damit auf einen Schlag gelöst wären.
Ich nickte.
„Aber Lukas ist gleichzeitig ein aufmerksamer Kursteilnehmer, der die Technik der deduktiven Imagination für sich adaptiert hat.“

Seine Hände umfassten Anitas Kopf und drehten ihn in meine Richtung, als justiere er eine Satellitenschüssel.
„Lukas, imaginieren Sie, Sie hätten eine attraktive blonde Fünfundzwanzigjährige vor sich, die eindeutige Signale ausgesandt hat, dass sie von Ihnen geküsst werden möchten. Kommen Sie diesem Angebot nach!“

Auch wenn ein Teil meiner Wahrnehmung das Surren noch irgendwo hinter mir registrierte, fühlte es sich dennoch an, als kämpfe das Insekt jetzt irgendwo in meinem Gehörgang um Auslass.
„Haben Sie’s?“, mischte sich Neukamps Stimme zu meiner innerkörperlichen Klang-Collage.
Ein Nein würde Konsequenzen haben.

Ich bestätigte und durchsuchte simultan meine Erinnerungen nach einem Bild. Ein gesichtsloser Umriss tauchte auf, mit blonden Zöpfen, die sich zu einer Hochsteck-Frisur veränderten und schließlich in dem Afro-Look endeten, der Lisas Gesicht einrahmte.
Ich würde mir vorstellen meine Freundin zu küssen. Sie würde verstehen, dass ich das für uns tat.
Unter dem Gefühl der Erleichterung, dass ich unterbewusst die Lösung gefunden hatte, näherte ich mich Anitas Lippen, die trocken und spröde aussahen. Ihre Hände - an einer befand sich ein goldener, wie ich vermutete, Ehering - hoben sich einen kurzen Moment wie zur Abwehr, ehe sie kraftlos heruntersanken, als resigniere sie und wolle das Unvermeidliche geschehen lassen.
Ihr Atem fühlte sich warm an, wie er aus ihren Nasenlöchern strömte und meine Hand umspielte, mit der ich ihr Kinn streichelte; ein Vorspiel, um mir Zeit zu verschaffen, den Kuss hinauszuzögern. Ich ertastete die kleine Hautveränderung, die mir an diesem Tag schon mehrmals ins Auge gesprungen war, eine Warze oder ein Muttermal an ihrem Hals. Unter meiner Berührung bog sich das starre, einzelne Haar, das aus der Mitte erwuchs, ein wenig, ehe es - so vermutete ich zumindest - wieder in seine ursprüngliche Position zurücksprang. Lisas Bild verschwamm. Was ich im Begriff zu tun war, erschien mir auf einmal weitaus niederträchtiger als noch vor ein paar Sekunden. Wie musste sich diese gedemütigte Frau fühlen, wenn ich sie noch weiter erniedrigte, indem ich mich zu Neukamps Komplizen machte, seine Anweisungen ohne Widerstand ausführte?

Etwas veränderte sich, in Anitas Augen. Einen winzigen Moment lang dachte ich, sie füllten sich mit Tränen, dann aber bemerkte ich, dass sie irgendwie klarer wirkten, ihr Blick fest und entschlossen, als habe sie soeben eine Entscheidung getroffen.
Wieder arbeitete sich die vielleicht schon bald bevorstehende Vermittlung in mein Bewusstsein, die sich mit jedem Augenblick, den ich verstreichen ließ, ein Stück von mir entfernen würde.
Egoistisch war eine Sache, wenn man sie nur für sich selbst tat. Aber ich hatte Lisa und unsere ungeborene Tochter vorzuweisen, ihre kleinen Tritte, wenn ich Lisas Bauch streichelte. 'Küss sie endlich!'

Ich stellte mir vor, dass Anitas Lippen nicht unbeweglich blieben, meine Bewegungen nachahmten und dass sie möglicherweise sogar Gefallen daran fand. Schließlich war ich jung und nicht vollkommen unattraktiv. Ich legte meine Hände an ihre Wangen und blickte sie ein letztes Mal direkt an. Sie wirkte jetzt wie eine dieser fernöstlichen Plastikpuppen mit regungslos frostiger Mimik.
Und wie Neukamp zu Beginn seiner Ankündigung schien sie etwas wahrzunehmen.
Ãœber uns.
Dort, wo das Summen herkam.

'Küss sie endlich!', feuerte mich mein Verstand zum wiederholten Mal an, während Anita die Lippen aufeinanderpresste und ihre Augen zu Schlitzen verengte; gerade so, als konzentriere sie sich auf etwas, als versuche sie, Einfluss mit ihrem Willen, ihren Gedanken auszuüben.

Das Summen nahm an Intensität zu.
„Lukas, worauf warten Sie?“ Ich konnte die Ungeduld in Neukamps Stimme hören und legte meinen Arm um Anitas Schulter. Meine Hand glitt über ihren Rücken, unpassend, unbeholfen, falsch.
Das Summen: jetzt unerträglich laut.
Es fühlte sich an, als dränge sich etwas zwischen uns, in die wenigen Zentimeter, die unsere Lippen voneinander trennten.

Anita schien plötzlich aus ihrer zusammengefallenen Haltung zu erwachen, richtete sich auf, wirkte wie ein Fußballspieler kurz vor dem Kopfball, als spanne sie Stirn und Wangenmuskeln gleichzeitig an.

„Nein.“
„Was haben Sie gesagt, Lukas?“
„Nein!“
Ich löste mich von Anita. „Nein zu Ihrem Punktesystem, Nein zu Ihrer Vermittlung und Nein zu Ihnen, Neukamp.“
Er fuhr sich über den Bart.
„Meinen Glückwunsch, Lukas. Sie haben sich soeben 2500 Punkte verdient. Damit kann ich Sie vermitteln. Leider muss ich Anita diese Punkte abziehen.“
Das Summen war mit einem Mal verschwunden. Dafür kam Unruhe unter den Teilnehmern auf, bis Neukamp beschwichtigend die Arme hob.
„Das ist doch vollkommen krank!“, schrie ich Neukamp an.

Auch nach der zweiten Zigarette im Freien zitterten meine Hände noch.
Ich beobachtete, wie die anderen Teilnehmer aus dem Saal strömten. Anita guckte im Vorbeigehen kurz zu mir rüber. „Du Kameradenschwein!“, zischte sie, ehe auch sie in Richtung Nachmittagsseminar verschwand.

Letzte Aktualisierung: 26.05.2013 - 11.54 Uhr
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