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Berge versetzen | Mai 2013

Sand im Wind
von Katharina Conrad

So habe ich Deutschland gar nicht in Erinnerung. War es früher auch so kalt hier? Ich fühle mich, als hätte ich meine ganze Körperwärme in Nordafrika zurückgelassen.
Nejma streckt die Nase in den Nieselregen und lacht. „Ich mag es, wenn das Wasser einfach so vom Himmel fällt“, sagt sie, während die feinen Tropfen in ihrem schwarzen Haar glitzern und ihre Wangen glänzen lassen wie flüssiges Karamell.
Vor der Ankunftshalle steigen wir in ein Taxi.
„Zu Oma“, weist Nejma in fast akzentfreiem Deutsch den Fahrer an, der belustigt grinst.
Mechanisch nenne ich ihm die Adresse. Meine Tochter drückt sich die Nase an der Scheibe platt und bestaunt die Stadt, die so typisch ist für diese andere der beiden Welten, die gemeinsam ihre Herkunft ausmachen und zwischen denen es doch kaum Brücken gibt. Über ein Jahr sind wir nicht hiergewesen, das letzte Mal zu Nejmas viertem Geburtstag. Damals noch mit ihrem Vater. Wenn ich ehrlich bin, war es sogar seine Idee.
„Nejma muss auch einen Bezug zu deiner Heimat haben, Marlène.“
„Meine Heimat ist hier“, erwiderte ich, „diese Wüste, dieses Land. Meine Heimat bist du.“
Ich sehe ihn noch immer vor mir, wenn ich die Augen schließe. Ebenso wie in jedem einzelnen dieser millionenfachen schmerzhaft süßen Momente, wenn ich unsere Tochter anschaue und er mich aus ihren schwarzen Augen heraus anblickt.
„Und du bist meine. Aber auch du hast Wurzeln, und Nejma teilt sie mit dir. Du darfst sie ihr nicht vorenthalten. Sie hat ein Recht darauf. Vielleicht möchte sie später …“
„… Mama! Du hörst mir ja gar nicht zu!“
Verflogen der Moment, die Erinnerung an die Kühle seiner Handflächen um meine eigenen, die mir immer wie ein Wunder erschien inmitten all der sonnenüberschwemmten Hitze.
Mittlerweile besteht die ganze Welt aus Kälte, um mich herum und in mir drin, und nichts daran ist mehr wunderbar.
Und Nejma? Sie ist nicht an die Wetterumschwünge in Mitteleuropa gewöhnt, nicht an den Winter, nicht mal wirklich an ein Dach über dem Kopf, denn zu Hause schlafen wir meist draußen, auf den weichen Teppichen, die Nouri auf dem flachen Dach unseres gekalkten Hauses ausgelegt hat, direkt unter dem funkelnden Baldachin der Sterne.
Sicher wird sie sich erkälten. Ich werde mit ihr einkaufen müssen, am besten sofort, einen Regenmantel und Unterhemden und gefütterte Gummistiefel.
Was habe ich mir dabei gedacht? Nejma gehört hier nicht hin. Und ich auch nicht. Nicht mehr.
Das Taxi hält am Straßenrand. Ich will dem Fahrer sagen, wir haben es uns anders überlegt. Zurück zum Flughafen, bitte. Schnell.
Dann findet mein Blick Nejmas. Dieses fünfjährige Mädchen, das mich so klug anschaut wie sein Vater, mit diesen dichten schwarzen Wimpern, die schon jetzt so lang sind, dass es mir beinahe wehtut, sie auch nur anzusehen.
Diese Wimpern, die mich kitzelten, wenn seine Lippen mich im Nacken berührten, meine Wange streiften, wenn er meinen Kopf zurückbog, um sich an meinem Hals zu vergraben.
Aber neben mir sitzt nicht Nouri, sondern Nejma.
Und eben wird auf ihrer Seite die Wagentür aufgerissen. Meine Mutter steckt den Kopf herein, mit der Küchenschürze um und einem halben Kohlkopf in der Hand.
„Jesses, Marlene! Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst? Wir hätten euch doch …“
„Oma!“, schreit Nejma, hängt sich an ihren Hals und überschüttet sie mit einem Schwall aus Arabisch, Französisch und Deutsch, in dem sie berichtet, dass sie in einem Flugzeug über das Meer und riesige, schneebedeckte Berge geflogen ist.
Also bezahle ich den Taxifahrer und steige aus. Ich ertrage das Wasser in den Augen meiner Mutter nicht und mache mich steif, als sie mich an sich zieht und umarmen will. Ich will sie damit nicht verletzen, aber ich ertrage es einfach nicht.

In meinem alten Kinderzimmer kleben selbstleuchtende Sterne an der Decke, aber es ist nicht dasselbe. Ich finde ein paar alte Sweatshirts von mir und wähle eines aus, stecke Nejma hinein und kremple ihr die Ärmel hoch.
„Frierst du noch?“
Sie schüttelt den Kopf. „Nein, Mama. Du weißt doch, ich habe die Sonne hier drinnen“, erklärt sie und zeigt auf ihren Brustkorb. Das sagte ihr Vater immer, aber er meinte damit nicht die körperliche Wärme, sondern ihr sonniges Gemüt.
„Aber du frierst, Mama. Du bist ganz weiß im Gesicht.“ Ihre Augen funkeln. Genau das meinte ihr Vater.
„Noch weißer als sonst?“, frage ich und muss wider Willen grinsen.
Ich ziehe sie an mich und atme den Oliven-Duft ihres Haares.
„Wir fahren bald wieder heim, ich versprech’s dir.“
Entrüstet schiebt sie mich von sich.
„Aber warum denn? Wir sind doch gerade erst angekommen.“
Dann ein kleiner Schrei und fort ist sie, meine Tochter, sie hat meine alten Spielsachen im Regal entdeckt. Meine Tochter, die aufgewachsen ist mit Ziegen und Kamelen, mit bloßen Füßen im Sand und Wasser aus einem Brunnen im Schatten einer Dattelplantage.
Es zerreißt mich fast. Wie konnte ich sie von dort wegbringen, wo sie so glücklich war?
Ich lasse mich nach hinten sinken, liege ausgestreckt auf dem Parkett.
„Marlène.“
Ich höre seine Stimme noch so oft. Weiß sofort, welche Begebenheit meine Erinnerung ausspuckt, auch dieses Mal. Wir sitzen auf der Kuppe einer Sanddüne, die Sonne steht tief, der Jeep weit unter uns schon im Schatten. Nicht mehr lange, und eine kurze Dämmerung wird die flirrende Tageshitze in eine klare Wüstennacht verwandeln.
„Marlène, bist du glücklich?“
Ich nicke und lege meinen Kopf an seine Schulter.
„Natürlich. Ich bin bei dir. Hier gehöre ich her, an deine Seite. Ich werde in diesem Land festwachsen wie diese Hügel hier.“
Nouri schweigt lange, seine Finger spielen mit meinem Haar. Schließlich löst er sich von mir.
„Schau mal, ich will dir etwas zeigen.“
Er nimmt eine Handvoll roten Sand und lässt ihn durch seine Finger rieseln. Der Wind trägt den Sand davon, eine feine rote Wolke, die hochwirbelt und sich zerstreut, um sich auf der Windschattenseite zu verlieren.
„Auch diese Dünen sind nicht festgewachsen. Der Wind lässt sie wandern, obwohl sie aussehen, als wären sie verwurzelt.“ Sein Lachen ist wie ein kleiner kühler Gebirgsbach. „Jetzt schau nicht so. Das heißt nicht, dass du weiterwandern sollst, oder gar zurück nach Europa. Im Gegenteil. Dass du meinetwegen hier“, in diesem Moment schließt seine Handbewegung die ganze Welt ein, „leben willst, macht mich zum glücklichsten Menschen unter der Sonne.“ Er wird wieder ernst. „Genau das will ich damit sagen. Wärst du nicht bereit gewesen, unserer Liebe hinterherzuwandern, dich vom Wind tragen zu lassen …“
„Aber warum bist du jetzt nicht mehr da?“, frage ich, doch schon am Hall meiner Stimme, zurückgeworfen von fliederfarbenen Betonwänden, höre ich, dass der Moment verklungen ist.
„Warum konntest du sie nicht einfach ihren Streit alleine ausfechten lassen? Heute ist die Grenze dort und morgen woanders, das hast du selbst oft gesagt, und ein paar Wochen später ziehen sie ohnehin weiter. Warum nur musstest du versuchen zu schlichten?“
Die Wände antworten nicht. Er ist nicht mehr da. Nur noch der Jeep mit den Einschusslöchern an der Seite, ein Bild, das sich auf meiner Netzhaut eingebrannt hat. Sein lebloser, eingehüllter Körper auf der Ladefläche.
Er ist nicht mehr da.
Keine Luft mehr zum Atmen.
Es will nicht in meinen Kopf.
Ich möchte nach Hause.
„Nejma!“
Wo ist sie nur? Wir fahren zurück zum Flughafen, sofort.
Wahllos werfe ich Sachen in meine Reisetasche, die halb ausgepackt auf meinem Jugendbett steht.
Neben mir erscheint meine Mutter, wie ein Dschinn. Sie sagt irgendwas, schreit, aber ich höre sie nicht. Will sie nicht hören.
Sie packt mich an den Unterarmen und zwingt mich, ihr ins Gesicht zu schauen.
„Kind! Wenn du wieder fort willst, bitte! Aber denk auch an Nejma und sei vernünftig, brich nichts übers Knie.“ Sie seufzt und streicht mir die Haare hinters Ohr. „Setz dich erst mal hin, Jesusmaria, und iss was. Ihr habt doch eine lange Reise hinter euch. Und noch viel mehr als das …“
„Ich bin kein Kind“, widerspreche ich trotzig, aber ich höre auf, Sachen in meine Tasche zu stopfen.
„Doch, das bist du“, sagt sie. „Mein Kind.“
Sie drückt mich an sich und ich lasse es zu. Nur weinen kann ich nicht.

„So“, sagt meine Mutter nach dem Essen. „Es hat aufgehört zu regnen. Und du wirst jetzt mit Nejma auf den Spielplatz gehen.“
Nejma hüpft vor Freude auf der Eckbank und stubst mich in die Seite, aber Mutters Ansage duldet ohnehin keinen Widerspruch. Und, ganz ehrlich – mir ist es egal. Was soll ich sonst tun? Wenn Nejma ihren Spaß daran hat … Soll sie den Spielplatz genießen, solange wir hier sind. Wenn wir erst wieder in Tunesien sind, gibt es diese Art von Kindervergnügen nicht mehr. Nur die Schaukel, die Nouri für sie hinter dem Haus zwischen zwei Dattelpalmen gezimmert hat.

Ich sitze auf der Bank zwischen zwei Müttern, die ich nicht kenne, was sie aber nicht davon abhält, sich über meinen Kopf hinweg zu unterhalten.
„… oder die Privatschule, die soll auch sehr gut sein. Vielleicht geben wir Lars aber auch einfach auf die stinknormale Grundschule hier vor Ort. Mir hat sie schließlich auch nicht geschadet …“
Ich schiele unauffällig zur Seite. Auch ich habe diese Grundschule besucht. Kenne ich sie am Ende doch? Ich bin mir nicht sicher.
„Ach, weißt du“, meint die andere und schnippt ein paar Ameisen von einem Apfelstück, bevor sie es dem Kleinkind auf ihrem Schoß in die Hand drückt, „uns ist es nicht so wichtig, ob Felicitas auf irgendeine besonders tolle Schule geht oder so. Hauptsache, sie fühlt sich wohl.“
Nejma spielt im Sand mit dem Mädchen namens Felicitas und dem Jungen namens Lars, gemeinsam bauen sie eine große Sandburg. Ich beobachte, wie Nejma eine Handvoll Sand aufhebt und ihn langsam durch ihre Finger rieseln lässt.
Er landet zu ihren Füßen auf einem kleinen, sanften Hügel.


©K.Conrad `13, V2

Letzte Aktualisierung: 09.05.2013 - 15.23 Uhr
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