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Berge versetzen | Mai 2013

Der Kuss
von Daniela Gerlach

Sie spürte es zum ersten Mal, als er von ihr einen Kuss verlangte, den sie ihm nicht geben wollte. Es schloss sich eng um ihre Brust, wie ein festes, steinernes Gefüge.
Sie waren laut geworden, wieder einmal, hatten rot erhitzte Gesichter und klopfende Herzen, während die Hände eifrig und fahrig mit irgendetwas beschäftigt waren. Sie räumte Geschirr in den Schrank, schob Tassen von hier nach da, er stand am Tisch, ordnete unnötigerweise die Werbesendungen, die in der Zeitung steckten. Dann war er ganz nahe an sie herangetreten, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnte, hatte den Kopf etwas schräg gelegt und sie angesehen. Sein Blick fiel mitten auf ihr Gesicht, beleuchtete es argwöhnisch, abwartend, auch unsicher, er versuchte, zu lesen. Ihr Gesicht wollte nicht gelesen werden, denn unter der Haut kamen all die Gedanken in Bewegung, von denen er nichts wusste. Sie gab ihm den Kuss, ganz kurz auf den Mund. Als schreckte sie vor diesen ernst zusammengehaltenen Lippen zurück, Lippen die sich öffneten, um zu sagen: „Komm, gib mir einen Kuss“ oder: „Liebst du mich noch?“
Ihr Körper machte sich steif, als er sie in den Arm nahm. Sie legte ihre rechte Hand vorsichtig auf seinen Rücken. Eine Weile standen sie so und horchten in die Umarmung hinein. Er drückte sie etwas fester, da fühlte sie das Gewicht der gemeinsamen Jahre. Es geht nicht, dachte sie. Die Trennung. Einfach so. Sich trennen, wenn die Zeit gekommen ist, wenn man sich nicht mehr versteht. 
Sie löste sich vorsichtig aus der Umarmung, lächelte ihn an und strich über seinen Arm. „Hmm“, brummte er und gab das Lächeln zurück, wieder versöhnt, doch mit einer kleinen Warnung darin. Er liebte sie, wie er keinen Menschen zuvor geliebt hatte. Sie war die Frau, mit der er bis an sein Lebensende zusammen sein wollte. Sie war die Frau, um die er kämpfen würde, die er beschützte, für die er sorgte. 
Wir verstehen uns ja noch, sagte sie sich, während sie wieder geschäftig wurde. Wir haben es gut, wir sind gern zu Hause, fühlen uns wohl hier, wir haben in vielem den gleichen Geschmack, wir machen immer noch unsere Sonntagsspaziergänge, sehen uns interessante Filme an, wir mögen gutes Essen, wir haben uns. Brauchen wir mehr? Man muss doch zufrieden sein.
Streit hatten sie noch nie ertragen können. Die Harmonie holten sie deshalb ins Haus. Ein lichtdurchflutetes, kleines Haus für ihre Zweisamkeit, mit hellen Holzmöbeln und einer gemütlichen Küche, mit einem Balkon, auf dem im Mai rosa und weiße Petunien gepflanzt wurden. Mit wie viel Liebe und Sorgfalt hatten sie alles ausgesucht und eingerichtet, nach und nach war es immer schöner geworden. Einmal, vor vielen Jahren, da hatte sie nach einem dieser Streitereien, in denen es um Nichtigkeiten geht, im neu gefliesten Badezimmer gestanden und gedacht: Je schöner das Haus wird, desto schlechter wird unsere Beziehung. Aber das war nur ein Gedanke. Gedanken kommen und verflüchtigen sich wieder.

Mit ihrem Fortbestehen wuchs die Beziehung zu einem mächtigen, unverwüstlichen Berg an, der seinen Platz in der Landschaft hatte. In seinem Inneren ruhte die Liebe wie ein Schatz. Sie fühlten sich geborgen. Sie und er – sich gefunden, zusammengeblieben, in der Liebe, aber auch im Schmerz. Nach und nach verhärtete das Gemeinsame, verkrustete, wies Strukturen auf, die man manchmal nicht mochte. Irgendwann fühlte sie sich gefangen in diesem Berg. Die Freiheit schien unmöglich, denn Berge lassen sich nicht einfach versetzen.
Es kam die Zeit, in der sie viel weinte. Sie weinte im Stillen, für sich, oder wenn sie uneins waren und der Ton zwischen ihnen grob wurde. Wenn er sich aufregte und sie gegen ihn anschrie, überließ sie sich kraftlos den Tränen. Er ertrug es nicht, sie so zu sehen, er entschuldigte sich bei ihr und tröstete sie. Auch ihr tat es leid. Mitleid. Immer öfter Mitleid. Mit jeder Versöhnung blieb ein Stück Wehmut hängen. All das, was sie gemeinsam geschaffen hatten, die Schönheit der Blumen auf dem Tisch, die Freundlichkeit und Güte in ihm, machten sie traurig. Die Lüge, mit der sie lebte, hatte er nicht verdient.
Leben, dachte sie, frei sein, atmen. Wie geht das? Es wog zu schwer, es lastete auf ihr, bedrängte sie. Seine Liebe umschloss sie fester denn je. Wenn sie morgens aufstand, lächelte der Tag ihr nicht mehr zu, ihre Bewegungen wurden automatisch, ihr Gesicht glich einer Maske, Traurigkeit lag in ihren Mundwinkeln. Er fragte sie: „Was ist mit dir?“ „Nichts“, antwortete sie und ging aus dem Raum, der Frage aus dem Weg, fort von seinen Blicken und seiner Liebe. Ihr Atem wurde flacher.
Leben, frei sein, atmen. Wie geht das nur? In ihrer Brust wuchs eine Wut heran, wurde heißer, brodelnd, in Gedanken schlug sie um sich, in Gedanken geriet alles in Bewegung. Gesteinsbrocken lösten sich aus dem festen Massiv ihrer Liebe. In Gedanken. Und doch betrachtete er sie voller Sorge und Angst. 
Eines Tages stand er nah vor ihr und fragte: „Liebst du mich eigentlich noch?“
In ihrem Innern explodierte etwas. Einen Berg kann man versetzen, wusste sie nun, indem man Stein für Stein abträgt. Alles war in Bewegung geraten. Sie gab ihm keinen Kuss. 
„Nein“, sagte sie, und: „Ich muss mit dir sprechen.“

©copyright by Daniela Gerlach, Alicante 2013

Letzte Aktualisierung: 18.05.2013 - 17.58 Uhr
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