Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
Es ist merkwürdig mit der Nostalgie. Je älter ich werde, umso schöner erscheint die Rückschau auf das, was ich nicht habe ausstehen können. Eines Tages, wenn die Hirnforschung Romeo und Julia erklären kann, wird der professorale Lehrkörper seine Studentinnen und Studenten mit Hausarbeiten über das vergilbende Erinnerungsvermögen traktieren, aber die Pamphlete werden keine Chance haben, in die Mythenbröckchen-Allgemeinbildung schwatzhafter Partygänger vorzudringen; das Phänomen ist komischer als seine Erklärung es wird sein können. Ein paar Eindrücke werden ihre Widerwärtigkeit aber auf ewig behalten.
An hellen Sommerabenden wie diesen kommt mir manchmal der Zigarrenladen in Erinnerung, vor dem ich mir als kleiner Bub die Nase plattdrückte, um mit den verschieden bebilderten Bauchbinden auf phantastische Reisen zu gehen. Das Geschäft lag an der Einmündung eines Gässchens in die Straße, in der ich aufwuchs, und mir ist, wenn ich mich in die sengende Mittagshitze vor jenes Schaufenster zurückträume, wie damals ein komisches Gefühl im Rücken, so, als ginge auf der anderen Straßenseite ein Mädchen aus meiner Klasse vorbei und das Schicksal stellte mich vor die Wahl, märchenhaft exotische Mexikanerinnen mit riesen Puffärmeln vor meinem geistigen Auge tanzen zu sehen oder den einen Augenblick zu erhaschen, in dem ich dem Mädchen ohne seine Freundinnen begegnen und es vielleicht ansprechen könnte. Ein bisschen weiter oben in meiner Straße wohnte ein Mädchen, zu dem ich ein sehr kumpelhaftes und vertrautes Verhältnis hatte. Es mochte keine meiner Freunde, ich mochte keine seiner Freundinnen, aber wir kamen gut miteinander aus, und wenn einer von uns krank war, brachte ihm der andere auf dem Heimweg die Hausaufgaben vorbei. Bei seiner Mutter lernte ich die Hälfte all dessen über moderne Kunst, was ich weiß, denn im aufgeweckten Alter von sechs oder sieben Jahren lernte ich ihren Nudelsalat kennen. Seine Farbschattierungen, die optischen Veränderungen beim Antrocknen und das sensorisch-oralerotisch sehr masochistisch gefärbte Rezeptionsgefühl beim Verspeisen korrespondieren vorzüglich mit allen symbolistischen, existenzialistischen, absurden, retromorphen und individualpartikularistischen Richtungen einschließlich ihrer künstlerbiographiesteganographischen Verschlüsselungen. Alles, was einem der Agent auf der Vernissage erkärt, schöpft sich auch aus der Betrachtung von Nudelsalat. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich so lange auf meine Lektion warten musste. Rafik Schami sagt: »Lade zehn Deutsche ein, und drei von ihnen werden sicher Nudelsalat mitbringen.« Nun, meine Familie verzweigt sich in die Vergangenheit hinein nach Westfalen, Sachsen, Bayern und Österreich-Ungarn. Man isst gern bei uns, ein winziges Zipfelchen Donaumonarchie - kulinarisch - hat alle Kriege und Kulturrevolutionen überstanden. In der österreichischen Küche sind Nudeln etwas verboten Sinnliches. Man isst sie nicht wie beim Italiener mit Sauce, sondern überbacken mit geschmolzener Butter und einem namensgebenden Zusatz. Besonders beliebt in meiner Familie waren Nudeln mit geschrotetem, aufgekochtem Mohn, die wir Mohnfleckeln nannten, und Nudeln mit gekochtem Schinken, die folgerichtig Schinkenfleckeln hießen. Ich hasse gekochten Schinken mein ganzes Leben lang. Ich kann ihn nur ertragen, wenn er auf einer dick mit Butter bestrichenen Scheibe Brot liegt, sehr dünn geschnitten ist und frei von der grauenhaften, Fäden ziehenden Salzlake, die sich nach wenigen Minuten seiner Lagerung bildet und mit der manche Industriezweige ein Vermögen verdienen könnten, wenn es einen gescheiten Chemieingenieur gäbe, der sie zum Rohstoff eines preiswerten Hautpflegeartikels erklären wollte. Ganz anders ist meine Einstellung zu Schinkenfleckeln und Mohnfleckeln. Diese kulinarischen Köstlichkeiten gehören in das Museum meiner Kindheit, und wenn ich nicht nach Wien ziehe, wo sie vielleicht in einem verträumten Beisel von einem sehr alten Heurigenwirt und seiner Frau noch zubereitet werden, wird meine Erinnerung mir mein Leben lang genügen müssen, wie beim Pflaumenkuchen meines Großvaters, für den ich auch keine Hoffnung auf kulinarische Auferstehung mehr habe. Die Nudeln wurden so gekocht, dass sie ganz weich waren, und dann müssen sie mit Butter und dem Mohn oder dem Schinken in die Bratröhre geschoben worden sein. Es gab an diesen Nudeln, wenn serviert wurde, nichts labberig weiches mehr, sie waren trocken und die obere Schicht im Topf war kross, und der Schinken war angenehm trocken und brachte den beinahe süßen Nudeln eine wunderbare, leicht salzige Note. Da es sehr viel Arbeit war, eine Familie aus fünf, manchmal sieben hungrigen Mäulern mit Mohnfleckeln sattzubekommen, waren das Feiertagsessen. Mein Großvater stand dann schon sehr früh auf und arbeitete im Akkord, bis um halb elf Uhr - pünktlich zu seinem Verständnis von Mittagszeit - mehrere dampfende große Töpfe fertig waren und unwiderstehliche Gerüche verbreiteten. Selbst ich, ein schlechter Esser mit penicillingeschwächtem Magen, verlangte als Fünfjähriger häufig zwei tiefe Suppenteller, die mir er oder meine Mutter mit großer Fröhlichkeit und Selbstverständlichkeit füllten. Ich wusste also von kleinster Kindheit an, worauf es bei Nudeln ankam: sie waren dampfend heiß, kross gebacken und entweder feinsüß wie Mohnfleckeln oder salzigsüß wie Schinkenfleckeln. Und herrlich sattmachend. Man hat nie gewusst, wie kalte Nudeln schmecken, denn die Löffel flogen nur so zwischen Teller und Mund hin und her; nie konnte diese köstliche Masse so lange verweilen, dass sie eine Chance gehabt hätte, auf Zimmertemperatur abzukühlen. Ich fühlte mich mit Nudeln auf Du und Du und war ganz von ihnen eingenommen.
Ob ich zur besseren Wertschätzung meiner paradiesischen Privilegiertheit mit der nüchternen Wirklichkeit konfrontiert werden sollte, dass es liebenswerte Menschen gibt, die mit Behagen kalte Nudeln löffeln, oder ob es keinen höheren Sinn im Leben gibt, weiß ich nicht. Jedenfalls begegnete ich meinem ersten Nudelsalat auf dem Kindergeburtstag des Mädchens die Straße hoch. Ihre Eltern gaben sich viel Mühe - wir vergnügten uns mit einfallsreichen Garagenhofspielen, gutem Kuchen und wirklich leckeren Frikadellen, die neben denen meines Großvaters bestehen konnten. Ich war beliebt bei allen Eltern, sie wollten mir alle etwas Gutes tun und den kränklichen, dürren Jungen extra mästen, wenn sie mich in die Finger bekamen, und ohne zu wissen wie mir geschah, saß ich mit meiner extra großen Portion eiskalt glitschig-mayonnaisig vergletscherter Nudelgebirgskette und leckeren heißen Würstchen da und wurde zu gutem Appetit aufgefordert. Da hockt man nun, unter der besonderen Beobachtung der Eltern seiner Gastgeberfreundin, die eigenen Eltern haben einen aufgefordert, artig zu sein und höflich zu essen, was serviert wird, und nach der ersten Gabel dachte ich: Warum? Und ich sah, wie die anderen dürren Kinder sich das Essen in den Mund schaufelten und mit dem Schlucken nicht nachkamen vor Genuss, stellte fest, dass die Schüssel mit dem Nudelsalat als erste leer war - und dass die Eltern meiner Schulfreundin gute Gastgeber waren und noch zwei, drei weitere große Schüsseln im Kühlschrank hatten. Ich kriegte es mit der Angst zu tun. Ich weiß, wie ich verstört nach Hause lief und fragte, ob man gekochte Nudeln kalt mit Mayonnaise, gekochten kalten Erbsen und gekochtem kalten Schinken und gekochten (!) Gewürzgürkchen mischen dürfte und ob das vielleicht eine westfälische Eigenheit sei, wo es doch gar nicht schmecke. Meine Mutter tröstete mich. Ich durfte mich sattessen, und anschließend brachten meine Eltern mich unter einer erfundenen Entschuldigung wie »der Kleine hat vergessen, dass er seine Medikamente nehmen musste, und das ist ihm beim Essen eingefallen und er ist schnell nach Hause gelaufen« wieder zurück zum Spielen und zum Abendbrot, wo es - beliebten Nudelsalat gab. Vielleicht haben meine Eltern die Mutter meiner Schulfreundin beiseite genommen, ich weiß es nicht. Jedenfalls bekam ich Kartoffelsalat, ohne Zwiebel und Gewürzgurke, dafür mit Mayonnaise, aber nicht widerwärtig. Von diesem Zeitpunkt an vermehrte sich die Anzahl der Dinge, die ich nicht verstehe, um zwei Eigenheiten, und zwar um heiße Würstchen mit Ketchup, und um Nudelsalat. Ebenfalls von da an hielt ich Abstand von allen gedeckten Picknickdecken aller Picknickgesellschaften und kam gut durch das Leben. Später und fast doppelt so alt entdeckte ich erneut das Phänomen der enormen Beliebtheit der untauglichen Speise bei der Mutter eines Mädchens, in das ich mich unsterblich verliebt hatte. Es lag aber nicht daran, dass wir heute kein Paar sind. Noch später, ich war schon im zweiten Semester, machte ich in den Osterferien einen Rhetorikkurs an der Volkshochschule, und ein älterer Herr, ein sehr weltgewandter türkischer Maschinenbauer, der kurz darauf zum Professor berufen wurde, fragte mich plötzlich anlasslos: »Und wie ist das mit dem Nudelsalat bei euch Deutschen? Immer wenn ich meine Freunde einlade - jeder Zweite bringt Nudelsalat mit. Was macht ihr da? Warum?« Ich habe nur höflich gelächelt und erklärt, dass Nudelsalat bei mir nie eine kulinarische Wertschätzung gewonnen hat und ich seine Frage nach dem Warum teile. Von da an nahm der Herr mich jeden Tag mit dem Wagen mit. Natürlich kann man den Partyliebling aus der Feinkostproduktion diverser mayonnaiseverarbeitender Lebensmittelbetriebe für einen völlig lächerlichen Einkaufspreis eimerweise im Supermarkt kaufen und die Behälter als ironisches Zitat auf Warhols Suppendosen arrangieren oder ihn wie ein Readymade neben dem Grill auf dem Tapeziertisch im Garten platzieren. Davon kann man ein paar Fotos machen und eine private Ausstellung organisieren, mit Würstchen und Salaten und der Rede eines befreundeten Gymnasiallehrers mit Nebenfach Kunst. Nur zum Verzehr sollte man niemanden zwingen.
(Version 2.0)
Letzte Aktualisierung: 28.06.2013 - 08.52 Uhr Dieser Text enthält 10040 Zeichen.