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Inspiration durch ein Bild | Juni 2013

Gefangene 519
von Susanne Ruitenberg

Raus hier, ist ihr einziger Gedanke, als sie losrennt. Den Gang entlang, vorbei an diesen merkwürdigen Gestalten, die Hände nach ihr ausstrecken, sie festzuhalten versuchen.
Wo ist sie?
Wie ist sie hierhergekommen?
Ihr ist, als habe ihre Existenz erst im Moment des Losrennens begonnen.
Was war vorher?
Undeutlich flackert eine Erinnerung auf. Ein weißer Raum, kahl, ein Bettgestell aus Metall, zu schmal, um richtig zu schlafen, kaltes Licht, Tag und Nacht. In einem anderen Leben. Einem, das sie kaum mit sich in Verbindung bringen kann.
Ein weiterer Erinnerungsfetzen. Sie, im Büro des Redakteurs. Ihr Artikel über – was? Gefangene, die auf geheimnisvolle Weise verschwinden. Und die Verstrickung von ... sie weiß es nicht mehr.
Nur, dass sie schon einmal geflohen ist, das weiß sie genau, diese Erinnerung überfällt sie schlagartig. Aus einem Gefängnis? Hat man sie wegen der Reportage eingebuchtet?
Woher haben Sie die Informationen? Wer ist Ihr Kontakt?
Unerbittlich. Ohne Gnade.
Ihr Kopf fühlt sich merkwürdig an, wie mit Watte gefüllt, die Gedanken verwaschen, undeutlich.
Ja, jetzt weiß sie es. Ein weiteres Verhör. Eine kurze Unaufmerksamkeit der Wachen, die sie betäubt wähnten, das hat sie den Gesprächsfetzen entnommen. Und so ist sie entwischt, das muss zwei Tage her sein, seitdem irrt sie in diesem alten Gemäuer herum, hat sich im Keller versteckt, in der Wäschekammer, den Wintervorräten, sie suchen nach ihr, aber nicht allzu intensiv, hier kann ohnehin niemand entkommen, das hat er ihr gesagt, mehrfach. Er, der die Verhöre leitet und sie dabei aus seinen eisgrauen Augen ansieht, so gefühllos wie ein Felsbrocken, kalt und unerbittlich.
Vage Erinnerungen an den Tag, als man sie hierherbrachte, flackern auf wie Kerzenschein in einem abgedunkelten Raunm. Ihr Entsetzen über die abgestumpften Menschenwracks in den Gängen. Sabbernde, aus stumpfsinnig gewordenen Augen sinnlos in die Gegend starrende Gestalten.
Sehen Sie sich Ihre zukünftigen Kameraden gut an, Sie werden viel Zeit mit ihnen verbringen, endlos viel Zeit. Lachen, humorlos.
Tagelange Verhöre. Alles wollen sie wissen. Sie sagt es ihnen, und als es nicht reicht, als sie unerbittlich weiterbohren, erfindet sie Sachen, von denen sie meint, dass sie sie hören wollen. Doch auch das genügt nicht.
Er führt sie einen langen Gang entlang. Deutet auf eine Tür. Dahinter liege die Freiheit, behauptet er, sie müsse nur noch verraten, wer ihr aus den inneren Kreisen Informationen zuschanzt . Sie glauben ihr nicht, dass sie es ganz allein herausgefunden hat, das mit den Gefangenen und den vielen anderen, die spurlos verschwunden sind, deren Vita man vom Zentralrechner löscht, als hätten sie nie existiert.
Sie hält inne, versucht, wieder zu Atem zu kommen. Es muss Nacht sein, das erkennt sie daran, dass weniger von den abgestumpften Gestalten herumlungern, nachts bringt man sie in große Räume mit Feldbetten, wo sie sich gegenseitig zulallen und vom Schlafen abhalten. Nur die speziellen Gefangenen, so wie sie, die kommen in Einzelhaft, in winzige Kammern.
Sie muss diese Tür wiederfinden. Aber was, wenn er gelogen hat? Die Tür gar nicht nach draußen führt? Doch es hat sich so wahr angefühlt, als sie mit ihm dort stand. Es war ihr, als riefe die Freiheit bereits nach ihr, sie meinte, Luft und Sonne auf den Lippen zu spüren, durch die Tür hindurch.
Sie rennt weiter, ein längerer Gang, der ihr bekannt vorkommt. An der Ecke muss eine blaue Serviceklappe sein. Sie biegt ab – nichts. Falscher Gang, oder falsche Erinnerung. Schritte hinter ihr. Aufs Geratewohl rennt sie in den nächsten Flur, und weiter, biegt mehrfach ab, bis sie nicht mehr weiß, wo sie sich befindet. Ihr Blick fällt auf einen Fleck an der Wand.
Als er sie hier entlangführte zur Tür, da tauchte auf einmal diese dürre Alte auf, ein zahnloses Grinsen, einen Becher mit einer undefinierbaren Flüssigkeit in der Hand und er, ungeduldig, fegte die Alte beiseite, so dass sie in die Wand knallte, samt Becher.
Das muss der besagte Gang sein! Dann ist hier die Tür in die Freiheit! Hört sie nicht schon wieder Schritte? Sie beschleunigt, rennt auf die Tür zu. Sicher wird sie abgeschlossen sein. Ohne große Hoffnung reißt sie daran, sie öffnet sich, ist nicht abgeschlossen und dahinter erspäht sie eine Treppe, leuchtendgrüne Betonfarbe, Krankenhausgrün, hell erleuchtet, von oben kommt Licht, Licht bedeutet Freiheit, vielleicht ein Garten, ein Innenhof, aus dem sie fliehen kann. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rennt sie nach oben, salzigen Schweiß auf den Lippen, ihr Herzschlag ein dumpfes Pochen in den Ohren.
Die Treppe endet in einer weiteren Tür, eine Glastür, dahinter das Licht, schon meint sie, den Wind der Freiheit auf der Haut zu spüren. Sie drückt die Klinke hinunter, zieht die Tür auf, tritt über die Schwelle.
Ein Raum, gleißend helle Lichtröhren an der Decke. Keine Möbel. Halt, doch, da steht etwas, in der Mitte, weiß wie der Raum, was ist das? Vorsichtig nähert sie sich. Erblickt die Rückseite einens Ledersessels.
Eine schnelle Drehbewegung. „Überraschung“, sagt er.

© Susanne Ruitenberg
VERSION 2

Letzte Aktualisierung: 27.06.2013 - 19.45 Uhr
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