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Inspiration durch ein Bild | Juni 2013

Die Dinge des Lebens
von Eva Fischer

Manche Dinge ziehen den Menschen an. Sie strecken unsichtbar ihre Fühler aus.

Marie wußte nicht, warum sie an jenem verregneten Samstagnachmittag auf den Dachboden stieg. Was sie dort oben wollte, was sie genau suchte.
Eine Gitarre stand gegen die Wand gelehnt in einer Ecke. Toms Gitarre. Sie strich über die Saiten, doch sie vermochte ihnen keine Melodie zu entlocken. Das war ihr noch nie gelungen.
Sie hörte lieber zu.

„It’s been a hard day`s night …”

Lichtjahre, so schien es ihr, war sie entfernt, seit Tom dort saß, stets unzufrieden, dass ihm der Schöpfer keine volle Haarpracht wie den Beatles geschenkt hatte. Sanft fuhr sie ihm über sein Haar, das sich für keine Farbe entscheiden konnte. Seine braunen Augen glühten vor Begeisterung. Nur zu gerne ließ sie den Funken auf sich überspringen.
Den Leib der Gitarre hatte er zwischen seine Schenkel gepresst. Mit seinen schmalen Fingern hielt er die Saiten fest, zupfte an ihnen zärtlich, als gäbe es keine Welt da draußen. Er entlockte dem Instrument Töne, als hätte er allein zu ihm Zugang.
Sie war nicht eifersüchtig auf diese Geliebte, stellte sich vor, wie er sich später ihrem Körper mit der gleichen Intensität zuwenden würde.

„And I’ve been working like a dog ...“

Vielleicht war dies das Problem. Irgendwann waren sie vorbei, die Jahre, wo sie keinen Gedanken an materiellen Wohlstand verschwendeten, wo sie in einer luftleeren Blase lebten, stetig um sich selbst kreisten, da sie Tage und Stunden nicht zählten.
Wenn sie sich sahen, war Jetztzeit, wenn sie sich trennten, wurden sie zurückgeschwemmt in die Banalität des Alltags.
Doch irgendwann forderte die Außenwelt ihren Tribut. Sie büffelten für die Prüfung und stellten die Weichen zum Erwachsensein.

„But when I get home to you I find the things that you do will make me feel alright.“

Am Anfang war das noch so. Sie fielen ausgehungert übereinander her, sobald sich die Tore des Büros hinter ihnen geschlossen hatten.
Tom holte die Gitarre, entkorkte eine Flasche Rotwein.Sie drängten alles weg, was sich hätte zwischen sie stellen können, hielten sich fest und mussten doch langsam loslassen, denn die Töne wurden leiser, so sehr sie auch dagegen anschrien.

*

Sie stieg die Treppe hinab. Die Erinnerung hinterließ einen bitter-süßen Geschmack in ihrem Mund. Eine Tasse Cappuccino könnte ihn hinunterspülen, könnte sie wieder wach machen für alles Gegenwärtige.
Während die Maschine fauchend ihre heiße Flüssigkeit preisgab, zog es sie ins Schlafzimmer zu ihrem Kleiderschrank. Das schwarze Kleid rangierte nicht in der ersten Reihe, aber sie brauchte nur im Dunkel des Schrankes zu fühlen. Kein Kleid zuvor und danach hatte diese unverwechselbare stoffliche Weichheit besessen, die sich wie eine zweite Haut anfühlte, nein, viel besser, die Besitzerin war sich der männlichen Blicke gewiss, ohne dass diese ihren Schutzpanzer hätten durchdringen können.

Es war ein heißer Augustsommer in Paris gewesen. Die Abende luden die Menschen ein, unter den schattigen Bäumen endlich durchzuatmen, mit einem Glas Wein in der Hand, offen für alles Leben, das erst mit der Dunkelheit erwachte.
Während die Hitze am Nachmittag bleiern zwischen den Häuserzeilen gestanden hatte, war sie allein durch die leeren Straßen geschlendert, als ihr Blick auf ein Kleid in einer Boutique fiel. Sie verspürte Lust, es anzuprobieren, auch wenn ihr das T-Shirt am Körper klebte .
« Cette robe vous va très bien », sagte die Verkäuferin zu ihrer einzigen Kundin. Marie drehte sich mit dem glockigen Rock vor dem Spiegel, fühlte sich wie eine Prinzessin, die zum Tanz auffordert.
„Combien?“ DieVerkäuferin nannte ihr einen Preis, den sie für vertretbar hielt. Marie eilte zurück ins Hotel. Tom lag auf dem Bett. Das weiße Leinentuch war auf den Boden gerutscht.
Sie brannte darauf, ihm ihre neue Eroberung vorzuführen, ließ sich von ihm den Reißverschluss schließen, stöckelte in dem kleinen Zimmer vor ihm auf und ab.
„Das Kleid darfst du nur für mich tragen“, lächelte Tom und zog es ihr wieder aus.

An diesem Abend lernten sie Gilbert in einem Keller mit Livemusik kennen. Während Tom der Musik von Georges Brassens und Juliette Gréco zuhörte, saß sie mit Gilbert von Gitanes-Zigaretten eingenebelt in einer Ecke und diskutierte mit ihm über den Sinn des Lebens, über die Untiefen der Existenz. Camus und Sartre hatten mögliche Antworten auf diese Fragen. Wie bei einem Ballspiel warfen sie sich immer neue Fragen zu, suchten nach immer neuen Antworten. Sie hörte die Musik nicht mehr, griff gierig nach den Worten als den eigentlichen Sinnträgern, die alles andere in den Hintergrund drängten.
Sie sah nicht mehr, dass Tom mit einer kleinen Brünetten tanzte und auch nicht, dass er irgendwann allein zurück ins Hotel ging.
Auch wenn sie am nächsten Tag mit Tom abreiste, blieb nichts mehr, wie es war.
Er verstand ihre Worte nicht mehr, sie wurde taub für die Töne seiner Musik.

*

Der Regen hatte noch nicht aufgehört. Sie suchte nach dem marineblauen Regenschirm, fand ihn im Flur, berührte seinen wasserfesten Stoff an der Stelle, wo sich das helle Eichenblatt auf dunklem Grund mit dem Schriftzug „National Trust“ befand. Dann schloss sie die Haustür, öffnete ihn und trat auf die Straße.

Die Englandfahrt war die letzte Reise mit Tom gewesen. Durch die riesigen Steinquader von Stonehenge pfiff der Wind, peitschte ihr den Regen schutzlos ins Gesicht. Ihr Regenschirm verbog sich zu einem sinnlosen Gerippe, das sie im nächsten Abfalleimer entsorgte. Der Touristenshop bot nicht nur Postkarten feil, sondern auch Regenschirme, die dem englischem Wind und Wetter trotzen sollten, so versprach es zumindest die Verkäuferin.

Seit vielen Jahren hatte der Schirm ihr nun treue Dienste geleistet.

Sie hasste den Regen noch immer, fürchtete die Kälte, die er zurückließ, sobald er abgeperlt war. Fest umklammerte sie den Knauf ihres Schirmes, in der Hoffnung, dass er sie wie Mary Poppins einst nach oben tragen würde.

3.Fassung

Letzte Aktualisierung: 21.06.2013 - 06.36 Uhr
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