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Inspiration durch ein Bild | Juni 2013

Quantensprung
von Ingo Pietsch

Die Vorlesung war nicht gerade gut besucht. Rund zwanzig Studenten lümmelten großzügig verstreut in dem Hörsaal herum. Die meisten tippten auf ihren Handys herum, einer schlief sogar.
Das hielt den Professor trotzdem nicht davon ab, die Vorlesung fortzusetzen.
Der einzige Student, der aufmerksam zuhörte und sich Notizen machte, hieß Stephen. Wie gebannt saugte er jedes Wort auf, das der Molekular-Physiker auf dem Podium von sich gab.
Dieser projizierte Skizzen an die Wand und malte Formeln an die Tafel.
Schließlich zeigte er den Querschnitt eines Metallquaders und zwar vor und nach einem Experiment mit Vibrationen und einem Elektromagneten. Die vorher strukturelle Ordnung war nach dem Versuch völlig durcheinander, auch wenn die äußere Form erhalten geblieben war.
Der Professor nannte dies „aus der Phase geworfen“.
Stephen hob seine Hand. „Professor?“
Die Handy-Spieler sahen kurz auf, als hätten sie das Vorlesungsende verpasst. Der Schläfer schnarchte jedoch weiterhin laut.
„Stephen? Stimmt`s?“, fragte der Professor.
„Ja. Wie lange war das Metallstück dem Experiment ausgesetzt?“
„Nur ein paar Minuten. Warum?“
Gespannt fragte Stephen: „Wenn man die Dauer erhöhen würde, was würde dann passieren?“
Der Professor ging näher an die Stuhlreihen: „Jedes Objekt besitzt eine Eigenschwingung. Ändert man diese, verändert sich auch dessen Zustand. Findet man allerdings die perfekte Resonanz, also den optimalen Ton, löst es sich theoretisch auf. So ähnlich wie bei einem Glas, das zerspringt.“
„Wie bei dem Philadelphia-Experiment, bei dem man die USS Eldridge unsichtbar machen wollte und die Matrosen mit dem Schiff verschmolzen sind?“
Der Professor legte die Stirn in Falten: „Ich denke, das gehört ins Reich der Mythen und Legenden. Wir machen jetzt mit dem Stoff weiter, aber ich würde Sie gern später noch sprechen.“

Gegenwart
Stephen konnte sich gerade noch an der Brüstung festhalten. Er war die letzten Stufen der brüchigen Treppe heruntergestürzt und hatte sie dabei kaputt getreten.
Stephen atmete tief durch. Ãœbelkeit stieg in ihm hoch und er hatte schlimme Kopfschmerzen.
Licht fiel durch Löcher in der Decke und der Teppich unter ihm war vollkommen vermodert.
Langsam richtete er sich auf und drehte sich um: Die Holztreppe zum Dachgeschoss war dermaßen ramponiert, dass es einem Wunder glich, lebend unten angekommen zu sein.
Aber er hatte es tatsächlich geschafft!
Langsam erholte sich Stephen von dem Sturz und ging nach draußen.
Ein Stück die Straße entlang würde man die Skyline von Manhatten sehen können.
Dagegen waren alle Häuser um ihn herum waren völlig zerfallen. Die Gärten verwildert.
War er in der Zukunft gelandet?
Das war unmöglich. Zeitreisen funktionierten nur in die Vergangenheit. Oder?
Stephen suchte die Hochhäuser, doch sie waren verschwunden.
Er kletterte einen Hügel hinauf und blickte in die Ferne: Wo sich einst die Insel New York befunden hatte, klaffte jetzt ein mit Wasser gefüllter Krater!

2 Jahre zuvor
„Sie wollten mich sprechen, Professor?“
„Stephen, setzen Sie sich. Was liegt Ihnen so an meinem Unterricht? Sie scheinen mir der einzige zu sein, der wirklich zuhört.“
Verlegen blickte Stephen auf den Schreibtisch. „Vielleicht halten Sie mich für verrückt, aber ich glaube, dass meine Schwester durch diesen perfekten Ton verschwunden ist.“
Interessiert sah ihn der Professor an: „Erzählen Sie mir davon!“
Stephen machte den Eindruck der Erleichterung, als habe er zum ersten Mal jemanden gefunden, der ihm glaubte.
„Ich war fünf und meine Schwester sieben. Wir hatten oben auf dem Dachboden unser Spielzimmer. Eine Holztreppe führte hinauf. Ich stand unten an der Balustrade zum Treppenhaus und wartete auf sie, weil wir gemeinsam zum Abendessen gehen wollten.“
Tränen stiegen ihm in die Augen. „Sie sang vor sich hin, mit ihrer hellen Stimme und hüpfte leichtfüßig die Stufen hinunter. Mit jedem Schritt wurde sie durchsichtiger und als sie die letzte Stufe nahm, war sie weg!“
Der Professor sagte nichts, ließ Stephen weiter reden.
„Meine Eltern fragten mich besorgt, wo sie geblieben sei und ich erzählte es ihnen. Sie glaubten mir natürlich kein Wort und dachten, wir wollten sie an der Nase herumführen. Irgendwann, als es schon dunkel war, kam die Polizei und durchsuchte das Haus, den Garten und die Umgebung. Aber sie fanden sie nicht. Vielleicht ist sie in eine Parallelwelt übergewechselt?“
Der Professor kratzte sich am Kopf. „Wenn man zum Beispiel das Bermudadreieck nimmt, wo angeblich magnetische Anomalien herrschen, könnte es durch die Vibrationen von Motoren möglicherweise zu solchen Vorfällen kommen. Wo, sagten Sie, steht ihr Elternhaus?“
„Das weiß ich leider nicht mehr. Ich war so traumatisiert, dass ich mich nicht erinnern kann. Wir zogen kurz nach dem Verschwinden meiner Schwester von dort fort. Ich bin erst vor kurzem wieder hierhergezogen, weil ich meine Schwester finden will. Ich glaube, dass sie noch lebt!“
„Sie wohnten früher hier in New York?“
„Ich denke schon. Was meinen Sie dazu, Professor?“
„Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Stephen, aber für mich als Wissenschaftler klingt das ein wenig verrückt, obwohl es schon Fälle von plötzlichem Verschwinden gegeben hat. Aber halten Sie mich auf dem Laufenden, was ihre Nachforschungen angeht. Und wenn Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich!“
Stephen hatte auf etwas mehr Verständnis gehofft und trottete mit gesenktem Haupt nach draußen. Trotzdem würden nichts und niemand ihn von seiner Suche abhalten.

Kaum war Stephen zur Tür hinaus, zückte der Professor sein Handy und sprach plötzlich Deutsch.
„Oberst Schneider? Möglicherweise kann Operation „Wiedergeburt“ beginnen – ja, das Warten hat ein Ende – genau, hier in New York – ja, ich muss natürlich noch Messungen vornehmen, aber den Ort haben wir ruckzuck gefunden – Nein, ich kann noch nicht sagen Wann und Wohin das Tor führt, auf jeden Fall in die Vergangenheit – Abhörverdacht? – Ich werde besser aufpassen, Obert Schn-.“ Der Professor wechselte ins Englische: „Sorry, Mr. Snyder!“
Der Professor salutierte, obwohl niemand anwesend war.

Gegenwart
„Hey, Junge!“ rief eine ältliche Stimme von weitem.
Stephen sah sich in der trostlosen Gegend um und fand einen Herrn um die Siebzig, der in einer vorrosteten Hollywood-Schaukel saß.
„Was machst du hier in der Todeszone?“
Stephen überging die Frage. „Welches Jahr haben wir?“
„So irgendwas um 1960. Ich weiß nicht genau. Spielt ehrlich gesagt keine Rolle.“
Stephen ging auf den Mann zu.
„Sie wohnen doch nicht hier, oder?“
„Nein. Mein Heim ist eine halbe Autostunde von hier entfernt. Gelegentlich besuche ich New York, nur um mich zu erinnern.“
Stephen setzte sich zu dem alten Mann auf die Schaukel.
„Was ist denn damals passiert?“
„Was lernt ihr jungen Leute eigentlich in der Schule?“ Der Mann schüttelte den Kopf. Begann dann aber mit seiner Erzählung.
„1945 warfen die Deutschen eine Atombombe auf New York, als Vergeltung für Hiroshima. Wir zogen unsere Truppen aus Europa ab und Deutschland verbündete sich mit den Russen. Inzwischen haben wir eine deutsch-russische Förderation, die die ganze Welt beherrscht. Erst fiel Frankreich, dann wurde England ausgehungert. Unsere Heimat steht unter einem Protektorat. Nur die Chinesen wehren sich noch mit Händen und Füßen. Die haben ihre Angst nach zwei Atombomben nicht verloren.“
„Wie konnte das passieren? Da, wo ich herkomme, haben die Deutschen den Krieg verloren.“
„Es gibt Gerüchte, dass kurz vor Kriegsende, bevor Deutschland besiegt worden wäre, eine Gruppe von Männern plötzlich auftauchte und den Kriegsverlauf bedeutend änderten. Niemand weiß genau woher sie kamen.“
„Sie wissen aber eine ganze Menge!“
„Ich würde lieber alles vergessen. Ich bin mit Schuld an dieser fürchterlichen Waffe.“
„Sie haben die Atombombe erfunden?“
„Nicht ich alleine.“ Der Mann wirkte deprimiert.

50 Jahre später
Stephen stürmte das Büro des Professors. „Ich habe ein Gerät erfunden, mit dem man magnetische Anomalien aufspüren kann. Ich nenne es den Vibrations-Wellen-Überschneider!“
Stephen hielt inne. Das Büro war leer.
„Ich kann das Haus meiner Eltern finden“, sagte er leise.

Stephen fuhr mit dem Gerät Tag und Nacht durch New York, bis er das Haus gefunden hatte.
Vor dem gepflegten Grundstück standen vier schwarze Vans.
Vorsichtig klingelte er. Eine alte Dame öffnete. Sie bat ihn herein.
Ohne Eile bat sie ihm eine Tasse Kaffee an und sie setzten sich in die Küche.
„Vor ein paar Tagen kam ein Mann hierher, er wollte sich nur ein wenig umsehen. Heute war es ein ganzer Trupp. Sie hielten mir einen Ausweis unter die Nase und schleppten etliche Kisten nach oben. Sie wollten nur auf den Dachboden, um etwas zu untersuchen, meinten sie. Dann hörte ich Fußgetrappel, als rannten sie alle die Treppe hinunter. Als ich nachsah, waren sie alle verschwunden.“
Stephen sah der Frau direkt in die Augen, irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Er schüttelte den Kopf. Dann fragte er: „Darf ich auch nach oben?“
„Ja, warum nicht?“
Die alte Dame starrte auf den Tisch: „Ich hoffe, du kannst etwas ändern, mir ist es leider nicht gelungen, Stephen.“

Stephen ging nach oben und schlagartig kamen die Erinnerungen wieder. Er ging ganz langsam die Treppe hoch. Dann dreht er sich und sah abwärts. Er holte tief Luft und lief los. Während er vorstürmte, wirbelten Fragen durch seinen Kopf: Was, wenn ich zu schnell bin oder zu langsam?
Aber für solche Überlegungen war es zu spät, er war schon auf der anderen Seite angekommen.

„Ich denke, ich komme aus der Zukunft, aus einer anderen Zukunft“, sagte Stephen bedächtig.
Der Mann erhob sich. „So etwas soll es geben.“
„Ich suche meine Schwester. Sie hat es wie mich hierher verschlagen.“
„Ich weiß“, antwortete der Mann ihm. „Sie ist ein paar Tage früher als du hier angekommen.“
„Wirklich?“ Dann hatte er den richtigen Zeitpunkt erwischt.
„Ich habe sie mit zu mir und meiner Frau mitgenommen. Sie erzählte eine ähnliche Geschichte und irgendetwas von einer Treppe. Also heißt du Stephen!“
Stephen nickte.
Der Mann hielt ihm die Hand hin: „Albert Einstein. Und jetzt komm, es wird bald dunkel.“

Letzte Aktualisierung: 24.06.2013 - 08.39 Uhr
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