Diese Seite jetzt drucken!

Inspiration durch ein Bild | Juni 2013

Utopia
von Martina Lange

Menschen standen in Blöcken zusammen. Ein aneinandergedrängtes und unüberblickbares Labyrinth. Laut redeten sie aufeinander ein. Und doch kam nicht ein Ton aus ihren weit aufgerissenen Mündern. Ihre Leiber versperrten David die Sicht. Wie sie um ihn undurchdringlich wurden, ihn immer lauter umringten. Er fand keinen Orientierungspunkt, keinen Halt, sah den Ausgang nicht. Trotzdem wusste er, dass er in seinem Haus war. Seine Gedanken suchten nach einer Erklärung. Was taten all diese Fremden hier? Wo war Nora? Wo die Kinder?
David löste sich schwerfällig, zwängte sich an den zähen Leibern vorbei. Quetschte und stieß und reckte den Kopf. Er suchte, aber er fand keine Erlösung. Alle Wege führten ins Nichts. Drehte er sich um, so kam er aus dem Nichts. Jegliche Farbe war verschwunden. Schwarz und Weiß. Unfarben in einer Unwelt. Er stürzte durch bodenlose Verzweiflung. Sein Herz schlug hektischer, stolperte und setzte aus.

Das Haus schlief. David lag mit offenen Augen da. Lauschte, wie die Dunkelheit atmete. Er hörte, wie die Wände sich aufblähten und wieder zusammenzogen. Ein und aus. Ein und aus. Über ihm knackte die Decke und sank tiefer. Wie sie stöhnte, sich streckte und sich noch ein Stück näherte! Die Luft um ihn wurde dichter. Es gab kaum noch Platz, in den sie sich hätte ausdehnen können. Das Atmen wurde ihm schwer unter dem drängenden Schwarz, das alle Farben in ihr Gegenteil verkehrte. Ganz in seiner Nähe spürte er, wie die Angst wuchs.
Bald würde sie die Augen aufreißen und ihn anstarren aus der Dunkelheit. Die milchweißen, toten Augen, die kein Mitleid, keine Gnade kannten. Er hörte, wie sie ihre Krallen schärfte, bereit zuzuschlagen, zu zerfetzen. Und aus jeder Pore seines Körpers drängte ein feiner feuchter Tropfen. Seine Haut presste die Kinder der Angst heraus. Sie durchdrangen seinen Pyjama und durchnässten seine Haare.
Der Atem der Angst roch sauer.

David schälte sich aus der Decke, die ihn fest umschlungen in seinem Bett halten wollte. Er musste diesen Geruch loswerden. Tastend schlich er ins Badezimmer. Der Vollmond beschien die Waschbecken und Armaturen. David drückte den Hebel nach oben und ließ sich das Wasser durch die Finger rinnen. Nach wenigen Augenblicken war es eisig. Er sog scharf den Atem ein, als es sein Gesicht traf. Der Guss zerschnitt seinen Blick in den Spiegel, zersplittert seine Welt in Schwarz und Weiß, scharfkantig und gewaltsam. David presste die Lider zu. Das schwarze Licht des Mondes drang immer noch hindurch. Brannte, wie seine Augen. Seit seiner Kindheit war ihm das nicht mehr passiert. Mit vollen Händen schöpfte er sich das Kristallwasser ins Gesicht. Jede Schwäche wollte er zerschneiden und fortwaschen. Wieder und immer wieder, bis sein Oberteil durchnässt war und das Wasser an seiner Brust herunterlief, seine Hose durchdrang und auf die Fliesen schwappte.
Bestürzt schnappte er nach Luft. Erst jetzt, da sich seine Lungen wieder füllten, bemerkte er, dass er den Atem angehalten hatte. Jede Faser seines Körpers brannte, stand lodernd in Flammen.
Flammen aus Eis.
David begann haltlos zu zittern, rutschte an der Duschwand zu Boden, umklammerte seine angezogenen Knie und presste sich die Hände auf die Ohren. Das schrille Kreischen hatte begonnen und nahm nicht ab.
Atmen, du musst atmen. Ein, aus. Ein, aus. Ein, … aus.


Der Himmel verfärbte sich. Aus Schwarz wurde Grau. Ein lichtes Grau, das langsam zu David vordrang. Die Nacht war vorüber.
Mühsam erhob er sich. Die Handgriffe seiner Morgenhygiene erfolgten mechanisch. Er sah nicht den Mann im Spiegel, den er rasierte. Er hörte nicht, wie die Welt um ihn erwachte.
Sein Kaffee war heiß und schmeckte nach Chlor. Er schob ihn von sich. Nora strich ihm über den Rücken. Sie erzählte und richtete die Schulbrote seiner Kinder. David sah, wie sich ihr Mund öffnete und schloss, aber ihre Worte ergaben keinen Sinn in seinem Kopf. Der Bissen in seinem Mund verwandelte sich in einen pappigen Brei. Gewaltsam zwang er ihn hinunter und holte tief Luft, damit er sich nicht übergab. Mitten auf den Frühstückstisch.
An der Haustür nahm Nora sein Gesicht in ihre Hände. Ernst betrachtete sie ihn. Ob sie die vergangene Nacht darin finden konnte?
David wandte sich zu ihrer Handfläche und küsste sie. Das lenkte sie ab. Er hob seinen Blick und als er ihren Augen begegnete, wünschte er sich, sie könnte sehen, wie sehr er sie liebte. Aber die Worte brachte er nicht über die Lippen. Er zwang seinen Mund zu einem Lächeln. Nora reichte ihm die Zeichenrolle und seinen Aktenkoffer.
„Ruf mich an, wenn du angekommen bist.“
David nahm seinen Rucksack und nickte.
„Ja, sobald ich gelandet bin.“
Vor der Tür wartete bereits das Taxi.
Sie winkte ihm nach. Verwischt in dieser Welt aus Nichtfarben. Er hob die Hand.
Als er sie wieder sinken ließ, fragte er sich, wem sie gehörte. Sie wirkte so fremd, falsch an seinem Handgelenk. Er hob seine andere Hand und musterte sie ebenfalls. Waren dies seine Hände?
Das Taxi hielt vor dem Bahnhof.

Letzte Aktualisierung: 25.06.2013 - 19.51 Uhr
Dieser Text enthält 5031 Zeichen.


www.schreib-lust.de