Diese Seite jetzt drucken!

Bewegung | Juli 2013

Stecken geblieben im Stau
von Ingeborg Restat

Seit zwanzig Jahren lebten Annegret und Dietmar zusammen. Sie wussten es beide nicht, warum und wann es begonnen hatte, dass es so schien, als gingen sie sich gegenseitig nur noch auf die Nerven. Dennoch kam es nie zu einem wirklichen Streit zwischen ihnen, nur gereizt reagierten sie oft aufeinander. Als das wenige Tage vor ihrer Fahrt zur goldenen Hochzeit ihrer Eltern wieder so geschah, sagte sie leise und ruhig: „Warum trennen wir uns eigentlich nicht?“
Tief betroffen hatte er sie daraufhin groß angesehen, war dann jedoch ohne jedes weitere Wort aus dem Zimmer gegangen.
Auch in den nächsten Tagen sprachen sie nicht darüber. Kinder, die sie hätten fester aneinander binden können, gab es bei ihnen nicht. Jeder sah in seinem Beruf seine Lebensaufgabe, er als Arzt, sie als Journalistin. Darin voranzukommen war ihr Ziel. Geregelte Arbeitszeiten kannten beide nicht. Einmal hatte sie frei, einmal er, selten zusammen. Wie oft sahen sie sich dabei tagelang nur am Morgen beim Frühstück und abends vor dem Schlafen. Darüber gab es auch noch Freunde und Hobbys, auf die sie nicht verzichten wollten. Zeit, miteinander zu leben, blieb dabei wenig.
Auch vor der kleinen Reise zu ihren Eltern fand sie erst spät abends Zeit, den Koffer zu packen. Gleich am nächsten Morgen fuhren sie los. Während er den Wagen über die Autobahn lenkte, lag sie müde im Beifahrersitz. Nur der Navigator durchbrach mitunter die Stille zwischen ihnen.
Sie kamen gut voran, bis die Autos vor ihnen langsamer wurden. Bald steckten sie mittendrin in einem Pulk von Autos, der sich nur noch im Schritttempo vorwärts bewegte. Schließlich war auch damit Schluss und sie standen.
„Ein Stau! Das hat uns gerade noch gefehlt.“ Ungeduldig richtete sie sich in ihrem Sitz auf.
Er lehnte sich zurück und trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.
„Damit änderst du auch nichts daran“, bemerkte sie gereizt.
Er stieß die Autotür auf, stieg aus, streckte sich und schaute über die Autodächer hinweg. „Die Schlange ist endlos. Das kann dauern!“, erklärte er und stieg wieder ein.
Da saßen sie nun in erzwungener Muße, nicht gehetzt von Terminen, von wichtigen Verabredungen oder Arbeiten. Um sie herum in den Autos wurde nach den Thermoskannen oder Getränkeflaschen gegriffen. Hier und da holte einer sein Frühstück nach. Einige stiegen aus, gingen ein paar Schritte auf und ab und redeten miteinander.
Annegret und Dietmar sahen schweigend dem Treiben zu. „Zanken sich die beiden da vor uns?“, fragte er plötzlich und wies auf das Auto vor ihnen.
„Es sieht so aus“, antwortete sie.
Gespannt verfolgten sie, wie das Paar heftig gestikulierend aufeinander einredete, bis Dietmar nachdenklich meinte: „Vielleicht ist es das, was bei uns gefehlt hat.“
„Na, hör mal! In letzter Zeit bist du ganz schön oft …“
„… gereizt gewesen, willst du sagen. Nein, das meine ich nicht, sondern so eine richtige Auseinandersetzung, wo einer dem andern sagt, was Sache ist.“
„Ich habe mich immer bemüht, gerade das zu vermeiden.“
„Eben! Ich auch.“
„Du?“
„Ja, auch ich. So haben wir nie erfahren, was uns aneinander stört.“
„Muss man dazu streiten?“
„Nein, muss man nicht. Doch geredet haben wir darüber auch nicht.“
Betroffen sah sie für einen Moment zur Seite. „Willst du mir die Schuld dafür geben?“
„Nein. Allerdings wirst du zugeben müssen, dass früher zwischen uns alles anders war. Du spürst es ja auch, sogar so sehr, dass du bereits von Trennung gesprochen hast. Wie konnte es dazu kommen?“
„Du bist nicht mehr so, wie du einmal warst, Dietmar.“
„Du auch nicht, Annegret.“
Nun redeten sie darüber, wie das alles so kommen konnte. Jetzt fanden sie Zeit dazu. Sie hielt ihm vor, dass er ihr nie richtig zuhörte, wenn sie von ihrer Arbeit sprach, und er warf ihr vor, dass sie nie danach fragte, wie es ihm in seinem Berufsleben erging.
Dabei war es Liebe und Leidenschaft gewesen, die sie zusammengebracht hatte. Nie sollte das zu Ende gehen. Und doch war es irgendwann im Sand des Alltags versickert. Doch die Chance, daraus gemeinsam etwas Neues, Beständiges, sie Verbindendes wachsen zu lassen, das hatten sie versäumt. Zu sehr ging jeder seinen eigenen Weg. Selbstverwirklichung und Vorwärtskommen im Beruf war ihnen wichtig. Zeit, die sie zusammen verbringen konnten, wurde weniger mit jedem Erfolg, den einer von ihnen erzielte. Das Miteinander wurde zu einem Nebeneinander, ohne dass sie es merkten. Alles, was sie taten, wurde zur Routine, selbst Sex erstarrte in Gewohnheit. Eine gewisse Gleichgültigkeit und Unzufriedenheit machte sich breit.
„Ich habe manchmal das Gefühl, als könntest du meine Nähe nicht mehr ertragen“, erklärte sie.
„Das stimmt nicht. Es ist nur deine Art, die ich an dir von früher her nicht kenne“, erwiderte er.
„Man verändert sich nun einmal nicht nur äußerlich, wenn man älter wird.“
„Mag sein. Doch auch wenn wir keine zwanzig mehr sind, sollte man nicht wenigstens noch etwas Zuneigung bei dem andern spüren? Ich aber spüre bei dir nichts mehr.“
Sie kniff die Lippen zusammen und schwieg.
Er blickte zu ihr, traurig. „Ich bedeute dir also nichts mehr? Darum willst du weg.“
Hastig fuhr sie herum. „Nein, so ist das nicht.“
„Warum dann, warum?“
„Weil, weil …! Ich kann es kaum noch aushalten, diese ewige Gereiztheit zwischen uns, diese Teilnahmslosigkeit, dieses Schweigen und kein Wort zu viel. Ich kenne mich in dir nicht mehr aus. Was bin ich noch für dich? Ein gewohnheitsmäßiger Gegenstand?“
Verblüfft schaute er sie an. „Genau dasselbe könnte ich auch dich fragen. Haben wir wirklich so aneinander vorbei gelebt?“
Sie wischte sich Tränen aus den Augen.
Dicht an ihrem Auto lief einer laut lachend vorüber.
Sie zuckten beide zusammen und sahen ihm nach.
„Ist nun alles zu Ende, nur weil wir es nicht geschafft haben, wirklich miteinander zu leben? Oder gibst du uns noch eine Chance?“, fragte er nach kurzem Schweigen.
„Ich will nicht gehen. Nur so gefühllos und gleichgültig wie jetzt möchte ich auch nicht weiterleben. Lachen, herzhaft lachen möchte ich mit dir wie früher.“ Und leise setzte sie noch hinzu: „Auch das Gefühl zusammenzugehören, möchte ich wieder haben.“
„Ich auch, Annegret.“
Stumm, fast ratlos saßen sie für einen Moment nebeneinander.
„Warum haben wir uns das Leben nur so schwer gemacht?“, fragte er dann.
Sie schwieg und zerdrückte ihr Taschentuch im Schoß.
Da wies er nach vorn und sagte: „Schau, die beiden sind besser dran als wir.“
Sie hob ihren Blick und sah, dass das streitende Paar in dem Auto vor ihnen sich jetzt versöhnt in den Armen lag.
„Aber immer erst zanken …?“, wandte sie ein.
„Nein, nicht zanken. Reden, Annegret, reden müssen wir, auch über uns. Das sollten wir nie vergessen. Ist das vielleicht die Antwort darauf, warum es deine Eltern fünfzig Jahre lang miteinander ausgehalten haben?“
„Streit gab es früher zu Hause auch. Der hielt nur nie lange an. Da war es auch noch nicht so selbstverständlich, dass eine Frau ihren Beruf so wichtig nahm wie ein Mann. Meistens hatten sie nur gemeinsam ein Ziel, dass es der Familie gut ging und die Kinder groß wurden.“
„Ob das nun besser war?“, überlegte Dietmar.
Aufgeregtes Rufen der Menschen draußen und Zuschlagen der Autotüren unterbrach ihr Gespräch. Sie blickten hinaus. Jeder eilte zu seinem Wagen.
„Schau, da vorne rollen sie wieder. Es geht weiter“, rief Annegret und schnallte sich an.
„Geht es auch bei uns weiter?“, fragte Dietmar, griff hinüber nach ihrer Hand und hielt sie fest.
„Ja, auch bei uns“, bestätigte sie.
Sie blickten sich tief in die Augen und sahen darin den verlorenen Glanz ihrer Liebe wieder aufleuchten.
Hinter ihnen wurde ungeduldig gehupt. Das zankende Paar hatte sich bereits ein Stück von ihnen entfernt. Dietmar startete. Und während er den Wagen in Bewegung setzte, sagte er lächelnd mit einem Seitenblick: „Vielleicht sollten wir jetzt heiraten.“
Überrascht sah sie zu ihm, „Nach zwanzig Jahren? Warum?“
„Vielleicht würde es dir dann schwerer fallen zu gehen.“
Da lachte sie und er fiel ein. So fuhren sie weiter. Der Stau hatte sich aufgelöst. Sie bewegten sich wieder.

Letzte Aktualisierung: 23.07.2013 - 19.35 Uhr
Dieser Text enthält 8217 Zeichen.


www.schreib-lust.de