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Bewegung | Juli 2013

Adam in Mach 2
von Susanne Ruitenberg


Der Wecker klingelte an diesem Morgen um sechs Uhr, wie jeden Tag. Adam ging ins Bad, schaltete das Radio ein und stutzte. Statt Musik dumpfe, wabernde Töne, einem Walgesang mit Bassstimme gleich. Er drehte an der Senderwahl. Überall dasselbe. Sicherheitshalber zog er den Stecker, beschloss, es sich am Abend genauer anzusehen, duschte, frühstückte wie gewohnt einen Espressoshake aus dem Kühlschrank und ein Toast mit Erdnussbutter, nahm seinen Rucksack von der Flurkommode und verließ seine Wohnung. Auf dem Weg nach unten fiel ihm die Ruhe auf. Normalerweise rauschten um diese Zeit Toilettenspülungen und Wasserohre, Kinderstimmen und das Dröhnen von Espressomaschinen durchdrangen das Treppenhaus. War er heute früher dran als sonst?, Nein, verriet ihm ein Blick auf seine Uhr. Er zuckte die Achseln und setzte seinen Weg fort. Was gingen ihn die Lebensgewohnheiten der Mitbewohner an? Vielleicht hatten die Schulferien begonnen und sämtliche Bewohner lagen in seligem Schlummer.
Erst, als er auf die Straße trat, merkte er, dass etwas nicht stimmte.
Stillstand.
Alles.
Angefangen mit den Autos auf der Fahrbahn - eines von ihnen gefangen im Überholmanöver des Fünfer-Busses, den er morgens nahm, um zur Arbeit zu kommen. Der stand an der Haltestelle, die Tür offen, jetzt hätte Adam lossprinten müssen, um ihn noch zu erwischen - doch er sah, dass es unnötig war. Eine Frau stieg gerade ein. Zumindest hatte sie einen Fuß in die Luft gehoben, hielt sich mit der linken Hand am Haltegriff in der Falttür fest. Die Finger des Busfahrers lagen auf den Knöpfen, mit denen er Wechselgeld aus dem Apparat in die kleine Fangschale fallen ließ, ein Fahrgast stand vor ihm, das Portemonnaie in der Hand.
Neugierig näherte sich Adam. Er tippte die Frau an. Hatte jemand seine Mitmenschen durch Schaufensterpuppen ersetzt? Er blickte sich um, erwartete, im nächsten Moment einen Fernsehfuzzi von der »versteckten Kamera« oder einer ähnlich unsinnigen Sendung zu sehen. Er kletterte an der Versteinerten vorbei in den Bus, starrte ihr ins Gesicht. Es sah völlig normal aus. Nur, dass es sich nicht bewegte. Kein bisschen. Adam wedelte mit der Hand vor ihren Augen herum. Keine Reaktion. Er tippte auf die Knöpfe am Fahrkartenautomat. Etwas ratterte in den Untiefen der Maschine.
Sich zwischen dem Fahrkartenkäufer und der Absperrung hindurchzwängend, betrat Adam den Bus und starrte die Leute an. Alle in dem gleichen Zustand. Was hatte sie eingefroren? Und warum ihn nicht? Ein kurzer Moment der Panik. Was, wenn dieses Phänomen anhalten sollte? Wäre er der letzte Normale in einer Welt voller Erstarrter? Lebten sie überhaupt? Oder würde er in wenigen Tagen von verwesenden Leichen umgeben sein? Panisch floh er wieder ins Freie, stand schwer atmend auf dem Bürgersteig. Sein Blick fiel auf den kleinen Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Kurzentschlossen überquerte er die Straße, ohne sich wie gewohnt nach dem Verkehr umzusehen. Er betrat den Laden.
Ihm bot sich das gleiche Bild. Kunden mit Einkaufskörben, die in den Gängen standen, einer hatte die Hand nach dem Regal mit den Corn Flakes ausgestreckt, eine Frau wog Bananen ab. Adam ging zu ihr hin, brach eine davon vom Bündel ab. Die Waage zeigte prompt einhundertzwanzig Gramm weniger an. Die Geräte funktionierten. Ebenso der Strom, die Lichter leuchteten wie gewohnt und aus den Kühltruhen wehte kalte Luft. Was sollte er tun? Mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, und sichergehen, dass dort alles normal lief?
War das noch wichtig, wenn die Welt unterging?
Der Gedanke an Weltuntergang löste etwas in ihm aus. Er nahm sich einen leeren Karton aus einem der Regale und packte wahllos Zwieback, Konservendosen, Mineralwasser und Hartwürste ein. Zum Schluss warf er ein großes Stück Seife in die Kiste. Er benutzte nie welche, nur Flüssiges, eine innere Stimme sagte, ihm, dass Stücke länger vorhielten.
Die Einkäufe trug er unbehelligt an der Kasse vorbei, zurück zu seiner Wohnung, verstaute sie. Das Haus lag so geräuschlos da wie vorhin.
Er holte sein Fahrrad aus dem Keller und schwang sich in den Sattel.
Überall das gleiche Bild. Stillstehende Fahrzeuge, Menschen, mitten in einer Handlung erstarrt, Hunde, die mit erhobenem Bein an einem Baum standen, Vögel mit ausgebreiteten Flügeln, wie Mobiles an unsichtbaren Fäden in der Luft aufgehängt.
Er erreichte seinen Arbeitsplatz, verstaute das Fahrrad und betrat das Büro. Die wenigsten arbeiteten so früh wie er und so wunderte er sich nicht, bei seinem Kontrollgang nur Frau Wegner aus der Buchhaltung anzutreffen, die immer an seinen Reisekostenabrechnungen etwas zu meckern fand. Sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf ihren Computerschirm, die Hände schreibbereit auf der Tastatur, den Dutt so festgezurrt, dass er sich fragte, warum die Haare nicht vor Schmerz schrien
Er setzte sich auf den freien Platz ihr gegenüber.
»Hallo Frau Wegner. Lange nicht gesehen. Sie sind ja noch dicker geworden. Das kommt von den vielen Cremetörtchen, das wollte ich Ihnen schon immer mal sagen.«
Keine Reaktion. Wie auch.
Adam packte sein Laptop aus, schloss es an der nächstbesten Steckdose an und fuhr es hoch. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis die Log-In Maske erschien. Er tippte sein Passwort ein und wartete. Nach fünf Minuten beschloss er, in der Kaffeeküche nachzusehen, ob die Alte schon für Stoff gesorgt hatte. Hatte sie und er bediente sich großzügig, auch von ihren Cremetörtchen.
Kauend setzte er sich ihr wieder gegenüber. Die Maske zierte inzwischen seinen Bildschirm und er loggte sich ein. Der Laptop begann zu rauschen. Während er der Bestätigung harrte, trank er den Kaffee. Dabei sah ununterbrochen zur Wegner hinüber, wartete auf eine Reaktion, irgendeine, die ihm sagte, dass sie überhaupt lebte.
Es dauerte eine Weile, bis er es bemerkte.
Ihre Augen hatten vorhin ganz offen gestanden, das würde er unter Eid beschwören .
Nun hingen die Lider auf Halbmast. Fasziniert starrte er ihre Wimpern an. Bewegten sie sich nicht minimal? Doch wie ein Uhrzeiger, den man beobachtet, war die Bewegung zu gering, um wirklich wahrgenommen zu werden.
Nach weiteren fünfzehn Minuten hielt sie die Augen geschlossen.
Adam holte sein Handy heraus und stellte es auf Stoppuhrfunktion.
Alle halbe Stunde wechselten die Augen von offen zu geschlossen. Was hatte das zu bedeuten?
Als er es kapierte, fast zwei Stunden später, japste er nach Luft und wäre beinahe vom Stuhl gefallen in seiner Erregung.
Sie blinzelte!
Ganz normal, jeder Mensch tat das. Nur, dass das Blinzeln, was bei ihm im wahrsten Sinn des Wortes einen Augenblick dauerte, dreißig Minuten in Anspruch nahm.
Aber wenn sie blinzelte, lebte sie! War er am Ende der Unnormale?
Kurzentschlossen schrieb er ihr eine E-Mail, schilderte alles, was er bisher erlebt hatte. Mehrere Stunden danach drehte Frau Wegner ganz langsam ihren Kopf in seine Richtung, deutete mit der Hand auf das Laptop. Ihr Gesicht nahm einen erschrockenen Ausdruck an. Sie begann, sich aus dem Stuhl zu erheben, als etwas auf ihrem Bildschirm ihre Aufmerksamkeit erregte. Seine Mail, sie hatte seine Mail gesehen!
Eine Ewigkeit später las er ihre Antwort: »Herr Bornmann, machen Sie keine Witze. Was Sie da schreiben, ist absurd. Die ganze Welt ist normal. Alle bewegen sich wie immer. Warum haben Sie eigentlich Ihr Laptop heimlich auf den freien Platz mir gegenüber aufgebaut, sind Sie schon im Haus? Sie könnten ruhig hallo sagen. Ach, und wenn Sie den Hausmeister sehen, fragen Sie ihn bitte nach Mückenspray für mich? Ich höre ständig so ein komisches Sirren, es müssen unzählige der Pieksenden Quälgeister über Nacht hier eingedrungen sein.«


©Susanne Ruitenberg
Version 2

Letzte Aktualisierung: 27.07.2013 - 19.16 Uhr
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