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Bewegung | Juli 2013

Wenn
von Eva Fischer

Wenn der Nachrichtensprecher mich um sechs Uhr morgens aus meiner Traumwelt holt, wälze ich mich unruhig auf die Seite. Wo wird Herr Snowden Unterschlupf finden? Was kann im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Europa getan werden? Das sind sicherlich wichtige Fragen, doch sie werden eindeutig zu früh gestellt.
Erst suche ich meine Brille, dann die Stopptaste. Bei täglicher Übung könnte man meinen, es fiele mir leicht. Meine Trefferquote zeugt jedoch nicht von schlafwandlerischer Sicherheit. Vielmehr erwische ich einen außerirdischen Summton, der mir jeglichen Aufenthalt im kuscheligen Bett verleidet. Ich stehe auf.
Manche Menschen brauchen zuerst eine Dusche, um die letzten, vielleicht unkeuschen Träume abzuspülen. Ich dagegen brauche zunächst eine heiße Tasse Kaffee, um den Temperatursturz von der warm gefederten Traumwelt in den kühlen Alltag zu bewältigen.
Nachdem ich mir einen mit Orangenmarmelade gebutterten Toast einverleibt habe, bin ich fit, um mein morgendliches Pensum in Angriff zu nehmen.

Ich gehe zur Garage, schwinge mich auf mein Fahrrad und radle zum nächsten S-Bahnhof.
Mit mittlerweile wachem Blick mache ich eine Lücke unter dem Heer zweitklassiger Drahtesel ausfindig, um den meinen dazwischenzuquetschen und mit einem Schloss an eine Stange zu ketten. Der mögliche Dieb müsste schon ästhetisch unempfindliche Kunden beliefern, vielleicht ein paar Rikschafahrer in Delhi.
Meist kommt die S-Bahn ganz gegen ihren Ruf pünktlich und ich muss auf den letzten Metern einen Spurt einlegen, um sie zu erwischen. Zwischen mit Ohrstöpseln musikalisch verschlossenen Pendlerohren atme ich erst einmal durch. Entweder versuche ich es erneut mit den Nachrichten des Tages, dieses Mal koffeinwach und geduscht, oder ich spare mir den Griff in die Aktentasche und lese einfach beim Nachbarn mit.
Nach zwanzig Minuten sagt mir der Lautsprecher, dass ich mein Ziel erreicht habe. Vorerst.
Denn zuerst muss die Differenz zwischen Schienenebene und Straßenhöhe überwunden werden.
Mist. Die Rolltreppe ist mal wieder defekt und so steige ich die Stufen hinauf. Nur nicht stolpern, denke ich, denn hier herrscht drangvolle Enge wie bei der Love-Parade. Heil oben angelangt, empfängt mich die Musik eines Akkordeonspielers. Doch die Pendler gehen achtlos an ihm vorbei, richten alle Blicke nach links.Tatsächlich, eine Straßenbahn der Nummer 713 nimmt im Abgasdunst der Großstadt Konturen an. Alle rennen über die Ampelanlage, ich auch, in der Hoffnung, dass die Bremsen der Autofahrer funktionieren. Stinkefinger können nicht mehr pariert werden, denn mittlerweile sitzen die Pendler in der Bahn, ich auch, und es bleiben nur noch wenige Minuten der Entspannung, bis ich mich durch die Massen zum Ausgang kämpfe und die ausgefahrenen Treppen hinuntergehe.
Ich eile die letzten Meter zu meinem Arbeitsplatz. Es ist acht Uhr.
Mir bleiben noch genau fünf Minuten. Zwei Stufen auf einmal nehmend erreiche ich die zweite Etage, wo die Fünftklässler bereits mit ihren Nike- beschuhten Hufen scharren, bevor ich sie zur Turnhalle führe. Eine Runde warm laufen, verfüge ich lautstark durch die Trillerpfeife unterstützt.Während sie kichernd und sich boxend leichtfüßig an mir vorbeitraben, sich alles bewegt außer mir selbst, gerate ich ins Grübeln.

Jeden Tag, jahraus, jahrein, spurte, renne, eile ich, bin immer in Bewegung und fühle mich doch zunehmend erstarrt.
Was bewege ich?
Werde ich nicht vielmehr bewegt?
Folge ich nicht dem immer gleichen Rhythmus?
Ist es überhaupt mein Rhythmus?

Was wäre, wenn ich nicht aufstünde?
Dann wäre ich meiner Traumwelt ausgeliefert. Wer garantiert mir, dass sie mir nur schöne Träume bringt? Vielleicht hätte ich einen Alptraum, dass ich renne und nicht vom Fleck komme?
Nein, dann ist es schon besser, ich stehe auf.

Was wäre, wenn ich nicht in die Großstadt führe, wenn ich in meinem idyllischen Vorort bliebe?
Dann könnte ich morgens durch die menschenleeren Straßen schlendern. Das einzige, was sich bewegte, wären die Gardinen hinter den Fenstern der gelangweilten Hausfrauen und Rentner, die jeden meiner Schritte argwöhnisch begleiteten. Auch die Hunde würden mir kläffend ihre Aufmerksamkeit schenken.
Nein, auch das ist keine wirkliche Alternative.

Was wäre, wenn ich weit weg in die Karibik flöge, zwischen zwei Palmen in einer Hängematte schaukelte, auf das kobaltblaue Meer schaute und dem Gesang der Paradiesvögel lauschte?
Ich gebe zu, diesen Gedanken finde ich äußerst verführerisch. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass der Boden unter mir schwankt, ich vielleicht schon in der Hängematte liege. Nur die Paradiesvögel klingen etwas schrill.
„Frau Sei-del!“
Was will dieser Junge von mir? Hieß er nicht Justin? Sein blasses Gesicht weist eindeutig Schlieren auf. Hat er vergessen, sich zu waschen? Der Geruch von Schweiß nimmt mir den Atem.
„Frau Sei-del! Hööören Sie mich?“
Warum soll ich hören? Besser ich höre ihn nicht, höre überhaupt nichts mehr. Ich bin doch in meiner Hängematte, will meine Ruhe. Die Sonne fällt vom Himmel. In der Karibik wird es immer abrupt dunkel, weiß ich. Das ist gut so, ist das letzte, was ich denke, an was ich mich erinnern kann.

*

„Frau Seidel, können Sie mich hören?“
Ich versuche zwischen all dem Weiß ein Gesicht auszumachen. Der Mann, zu dem es gehört, ist mir sympathisch. Seine Stimme klingt sanft.
„Sie hatten einen Schlaganfall, aber dank der schnellen Hilfe konnten wir das Schlimmste verhindern.“
Um seinen Mund zeigen sich Grübchen und so etwas wie ein Lächeln.
„Sie wissen, bei Ihrer Krankheit zählt jede Minute. Einer Ihrer Schüler muss wie ein Wiesel zum Sekretariat gerannt sein, so dass keine Zeit verloren ging. Sie können ihm dankbar sein,“ zwinkert er mir zu.
„Ich schicke Ihnen gleich einen Therapeuten vorbei, der mit Ihnen einige körperliche Übungen machen wird.“

Ich muss wieder laufen lernen wie ein Kleinkind. Ich fasse es nicht. Vorsichtig setze ich meine Füße auf, mache Schritt für Schritt. Auch meine Worte muss ich mühsam zusammensuchen, bevor sie kleine Sätze formen.
Mein Therapeut lässt nicht locker. Er scheint einen nichtversiegenden Optimismus und eine maßlose Power zu besitzen.

Wochen später erzähle ich ihm von meinem Karibiktraum.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.“
Ich gehe neben ihm her. Ich eile nicht, ich renne nicht, ich spurte nicht, doch ich bewege mich wieder ganz sicher auf meinen zwei Beinen.
Er führt mich in einen Raum, der sich wohltuend von den sterilen Krankenhausräumen unterscheidet. Die Wände sind nicht weiß, sondern mit menschenhohen Palmen bemalt. Robin, so heißt mein Therapeut, schaltet einen Knopf ein und schon ertönt der sanfte Wellenschlag des Meeres, das Krächzen von Papageien. Um die Ecke gibt es tatsächlich eine zitronengelbe Hängematte.
„Das ist unser Meditationsraum. Ich habe Ihnen mal die Geräuschkulisse von Südamerika eingeschaltet, aber wir haben auch Afrika, Löwen und Affen, wenn Ihnen das lieber ist. Oder wie wäre es mit den Singvögeln unserer einheimischen Wälder?“

Ich entscheide mich für einen Rundgang durch den Klinikpark.

Letzte Aktualisierung: 05.07.2013 - 20.38 Uhr
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