Diese Seite jetzt drucken!

Bewegung | Juli 2013

Die Jagd auf das goldene Medaillon
von Karin Hübener

Jaro warf sich ins Moos. Er musste das goldene Medaillon schützen, das er unter dem Hemd trug. Zu seinem Schrecken hatte er das Knarzen von Gäspenflügeln gehört. Ein einzelnes Tier war noch nicht gefährlich. Doch diese Kundschafter konnten ihren ganzen Clan herbeizitieren, und dann wurde es brenzlig. Also blieb er steif liegen, atmete flach und hoffte, dass sich die Gäspe nicht auf seinen Körper setzte. Ihre giftigen Krallen konnten böse zwacken. Und wenn das Insekt erst unter seine Weste kroch! Nein, daran wollte er nicht denken.

Flieg bitte weiter, betete er.

Das Knarzen näherte sich gleichmäßig. Die Gäspe schwenkte also nicht suchend umher, sondern verfolgte einen geraden Kurs. Als sie dicht an seinem Ohr vorbeiflog, schmerzte Jaros Trommelfell. Gottlob hielt das Tier seine Flugbahn bei und entschwand. Aber noch entspannte sich Jaro nicht. Er wusste, dass Gäspen manchmal minutenlang im Gesträuch verharrten, um ihre Umgebung aufzunehmen. Deshalb regte er sich noch nicht. Stattdessen dachte er an seinen Auftrag.


"Wenn die Mächte der Gier dieses Medaillon zu fassen kriegen, dann wird unser Land in ihrem Pesthauch ersticken", hatte Mytin erklärt.
Da hatte Jaro einen Eid geleistet.
"Ich werde alles tun, um das Kleinod unbeschadet nach Kronenburg zu bringen."
Lächelnd hatte ihm Mytin auf die Schulter geklopft.
"So soll es denn sein, Jaro Waldläufer."
Die kleine Eule auf Mytins Hut hatte sich zufrieden aufgeplustert.


Jaro fror. Verwirrt blinzelte er in die Moospflanzen vor seinen Augen. Da war er doch wegen dieser dämlichen Gäspe kurz eingenickt, dachte er. Wie dumm, dass diese Tiere nicht nur vom Nektar der Waldglocken lebten, sondern auch von Goldpartikeln.
Bevor er sich erhob, lauschte er auf die Geräusche des Waldes. Als er nichts Verdächtiges vernahm, begann er seine Glieder zu strecken. Bis zum Abend war es noch lang. Trotzdem musste er sich beeilen.


Das Wichtigste war, keine Angst zu bekommen. Denn Grölfe achteten nicht nur auf das Gewusel von Gäspenschwärmen. Sie reagierten auch empfindlich auf den Geruch von Angstschweiß, insbesondere dann, wenn er in die Kleidung eingedrungen war. Zum Glück umgab Jaro nun eine erdige Duftwolke. Auch war der Archaisee nicht mehr weit.
Bei jedem Schritt bewegte er sich so lautlos wie möglich, denn er durfte niemandes Aufmerksamkeit erwecken.


Als der See durch das Unterholz schimmerte, streute er Alanumsporen über den Waldboden. An dieser Stelle war es besonders wichtig, keine Spuren zu hinterlassen. Und nichts störte den Geruchssinn der Grölfe so sehr, wie dieser feine Pflanzenstaub.
Am Ufer entkleidete er sich, verbarg das Medaillon im Mund und wusch seine Kleider. Dann pflückte er große Blätter des Duftlotos und wickelte seine Wäsche hinein. Mit diesem Trick überlagerte Jaro den Angstgeruch von der Gäspenbegegnung.


Nachdem er die Außenseite seines Rucksacks mit Weidenzweigen getarnt hatte, hielt er eine Hand voll Süßbeeren ins Wasser. Kurz darauf tauchte ein Quastenflosser auf. Der breite Kopf mit den Glupschaugen wirkte im dunklen Uferschlamm bedrohlich. Aber der Riesenfisch verschluckte die Beeren manierlich und ließ danach den nackten Menschen aufsteigen.
Jaro duckte sich und fand Halt an den ledernen Schuppen. Wer auch immer jetzt über den weiten See spähte, sollte die Zweige auf seinem Rücken für Treibgut halten.


Den fernen Schrei des Geipers hörten Mensch und Fisch gleichzeitig. Sofort tauchte der Quastenflosser ab. Zwar konnten die Fänge dieser Raubvögel nicht durch Lederschuppen dringen, aber ihre scharfen Schnäbel hatten schon manche Fischaugen zu Brei gehackt.
Hoffentlich tauchte das Tier nicht zu tief, dachte Jaro. Denn länger als fünf Minuten konnte er die Luft nicht anhalten.
Das Wasser wurde kühler und trüber. Dann verdoppelte der Fisch seine Geschwindigkeit und schoss im Schutz der Tiefe auf das andere Ufer zu. Endlich tauchte er in einem Schilfdickicht auf. Jaro konnte wieder Luft schöpfen. Er bedankte sich bei seinem Gefährten mit den dicksten Süßbeeren.


Leider waren die Alanumsporen jetzt patschnass. Aber zum Glück schloss sich dem See ein Lianenwald an. So musste Jaro den Boden nicht betreten. Er zog sich einfach direkt aus dem Wasser in einen Baum hinauf. Im Geäst zwängte er seine nassen Kleider über. Zwar zitterte er nun vor Kälte, doch unter dem Hemd war das Medaillon sicherer.
Nachdenklich schaute er es an. Wenn wirklich die Kraft des Lebens in ihm steckte, wie Mytin erklärt hatte, warum spürte er dann so wenig davon?


Als er sich zur nächsten Baumkrone schwingen wollte, vernahm er ein Hecheln. Langsam, ganz langsam, wandte er den Blick zum Waldboden.
Großer Gott! Ein Grolf war aus dem Dickicht getreten. Schnuppernd bewegte er sich auf das Ufer zu. Seine grüne Zunge hing ihm seitlich aus dem spitzen Maul. Grün war auch sein giftiger Atem, dessen stinkende Schwaden bis zu Jaro hinauf in die Baumkrone waberten. Kleine, grüne Schleimflecken setzten sich auf der Rinde ab, einer auch auf der Hand des Waldläufers. Das brannte höllisch, aber Jaro gelang es, nicht aufzustöhnen.


Zielstrebig trabte die Bestie auf jene Stelle zu, an der Jaro beinahe das Ufer betreten hätte. Doch anstatt Unruhe zu zeigen, schlabberte das Tier genüsslich Wasser. Schließlich hob es den Kopf, leckte sich die Schnauze und äugte ins Schilf hinein. Lange, viel zu lange, schien es. Endlich wandte der Grolf sich wieder dem Ufer zu und verfolgte weiter seinen Weg am Rande des Sees. Erst als sein Zottelfell im Farn verschwunden war, löste sich Jaro aus seiner Starre.
Wie gut war es nun, dass er die nasse Kleidung trug. Sie hatte seinen Körper auch in der Angst kühl gehalten und ihm so das Leben gerettet.


In friedlichen Zeiten schwang sich ein Waldläufer mit Lianen zügig durch die Lüfte. Aber dies war keine friedliche Zeit. In jedem neuen Geäst verharrte Jaro erst einige Minuten, bevor er sich weiter wagte.
Es dämmerte bereits, als er endlich über das Tal von Kronenburg blickte. Fruchtbare Felder, blühende Obstplantagen und saftige Weiden lagen dort unten. Inmitten der Ebene erhob sich auf einer Anhöhe die stolze Königsburg. Ihm schien, als grüßten die bunten Wimpel aufmunternd von den Zinnen zu ihm hinüber. Doch nun begann der schwierigste Teil seines Weges, denn im Tal gab es kaum Deckung.

Prüfend glitt sein Blick über die Wipfel. Da stockte er und betrachtete den dunklen Punkt, der weiter unten in einer Baumkrone hockte. Jaro erkannte einen Geiper. Ihm wurde heiß. Wenn dort einer dieser Vögel hockte und das Tal überwachte, dann saß weiter oben vielleicht ein weiteres Tier und hatte ihn längst erspäht.
Ohne den Kopf zu bewegen, schielte er gen Westen. In der Dämmerung entdeckte er grüne Lichter, die von den Hängen ins Tal drängten. Grölfe! Wie sollte er jetzt noch unerkannt nach Kronenburg gelangen?


"Sucht Ihr etwas Bestimmtes?"
Erschrocken blickte Jaro zu dem Köhler hinab, der mit einem Queselskarren neben dem Baum stand. Rasch glitt er an einer Liane zu ihm hinunter.
"Woher kommt Ihr, Mann?"
"Vom König", antwortete der Waldarbeiter. "Schnell, kriecht unter die Holzkohle! Die verdeckt Eure Spuren."
"Und Ihr? Und der Quesel? Werden Euch die Grölfe nicht zerfleischen?"
Der Köhler nahm eine wolkige Decke vom Wagen.
"Der Mantel der Unscheinbarkeit wird uns schützen", sagte er.


Noch während Jaro auf den Karren sprang, zog der Quesel an.
Stockdunkel war es zwischen den Kohlen, aber seltsam luftig und warm. Erst jetzt spürte Jaro, wie erschöpft er war. Die Ruckelei des Wagens schläferte ihn ein. Er dachte an Mytin und wie der Alte so dagestanden hatte in seinem Gurkenbeet mit dem Kauz auf dem Kopf und dem Medaillon in der Hand.


"Tausende von Jahren gräbt sich die Kraft des Lebens durch das Erdreich der Kontinente. Und ausgerechnet in meinem Garten musste sie heute wieder auftauchen."
"Und was nun?" Ratlos hatte Jaro auf das verdreckte Medaillon geblickt.
"Tja, was nun?" Mytin hatte den Waldläufer listig angeblickt.
"Nun muss sie oberirdisch zum Garten des Königs gebracht werden. Nur von dort aus kann sie erneut ihre Wanderung durch die Tiefen beginnen."


Jaro erwachte von Geiperschreien, von Knarzen und Gebell. Der Wagen ruckelte nicht mehr über Waldwege, er sauste jetzt auf festen Straßen dahin. Immer wieder stieß jemand kraftvoll gegen den Karren, sodass er umzukippen drohte. Da bekam Jaro einen Schlag gegen den Kopf. Vermutlich war einer der Verfolger auf den Kohlenberg gesprungen. Doch ein Jaulen verriet, dass er gleich wieder abgerutscht war.
Vorsichtig grub Jaro ein Guckloch in die schwarze Ladung, aber er konnte weder den Kutscher noch den Quesel entdecken. Wie von Geisterhand gelenkt, schoss das Gefährt durch ein Heer grün leuchtender Bestien.
"Loch zu!", befahl die Stimme des Köhlers. "Oder mögt Ihr Gäspen?"
Das Knarzen! Natürlich! Ein ganzer Schwarm musste sich auf den Kohlen niedergelassen haben. Dies erklärte auch das Jaulen des Grolfs. Rasch zog sich Jaro in die Dunkelheit zurück.
Da rumpelte der Wagen über die Bohlen einer Holzbrücke. Männerrufe, Waffengeklirr, ein Schwall eiskalten Wassers gegen Gäspen, dann das Krachen eines gewaltigen Tores.


Der Karren hielt so abrupt, dass Jaro mitsamt der nassen Ladung in den Burghof rutschte.


"Willkommen, Jaro Waldläufer!"
Lachend reichte ihm der König die Hand. Auf seiner Schulter hockte eine kleine Eule, aus deren Gefieder ein pulsierendes Licht schimmerte.
"Ist das? Hat er?", stammelte Jaro.

Der König nickte.

"Das ist Mytins Kauz Wismut. Er brachte die Kraft des Lebens unbeschadet nach Kronenburg. Du trugst nur eine leere Hülse am Leib. Aber damit hast du die Feinde abgelenkt. Ohne dich hätten die Geiper den Kauz erwicht. So hast du deinen Auftrag erfüllt."
Jaro grinste.
Dann nestelte er das Medaillon hervor und reichte es dem König.
"Hier, Majestät, packt hinein, was hinein gehört. Und dann gewährt mir ein Bad!"



Version 2 ゥ Karin Hübener

Letzte Aktualisierung: 20.07.2013 - 18.09 Uhr
Dieser Text enthält 9916 Zeichen.


www.schreib-lust.de