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Feuer und Flamme | August 2013
Die Schönheit der Unendlichkeit
von Elmar Aweiawa

„Guten Morgen, Professor Semil! Schön, dass Sie bei uns sind, wir beginnen in wenigen Sekunden.“
„Ich habe zu danken, liebe Antje. Sie sind eine angenehme Gesprächspartnerin, die mir die Gelegenheit gibt, den Zuhörern nahezubringen, wie erleuchtend und einfach die Mathematik gestrickt ist. Und wie leidenschaftlich man sie lieben kann.“
Fasziniert betrachtet die Radiomoderatorin ihren Gast. Gestik und Mimik sind lebhaft und trotz seiner grauen Haare wirkt er jugendlich. Schade, dass es sich nicht um eine Fernsehsendung handelt, denkt Antje Zwitschka. Aber das meint sie bei jedem Interview, denn zumindest eine attraktive Person ist immer dabei. Ein Gong leitet die Startsequenz ein: „Wir sind auf Sendung.“

„Heute begrüße ich in unserem Studio den Mathematikprofessor Mathis Semil! Herzlichen Dank, dass Sie die Zuhörerschaft und mich mit Ihrer Gabe beglücken wollen. Es ist sicher nicht einfach, die Schönheit und Eleganz mathematischer Strukturen einem Laien verständlich zu machen. Obwohl doch manche ein bisschen nachvollziehen können, was ein Zahlenmensch wie Sie empfindet, wenn er abschließend das ‚quod erat demonstrandum’, ich übersetzte das schnell, ‚was zu beweisen war’, unter sein Werk setzen kann. Vergleichbar vielleicht mit einem Schriftsteller, der Nachwort und Danksagung seines Buches schreibt, nicht wahr, Herr Semil?“
Frau Zwitschka fasziniert mit ihrer Stimme. Doch das sonore Timbre ihres Gastes ist nicht weniger publikumswirksam.
„So kann man es formulieren. Etwas Neues zu schaffen, das sich zwingend notwendig aus Bekanntem ergibt und das dennoch niemand zuvor gewusst hat. Eine Leistung, die sich durchaus mit dem Schaffen eines Romans vergleichen lässt.“
„Veranschaulichen Sie uns das an einem Beispiel.“
Die Moderatorin puhlt angeregt an ihren Fingernägeln. „Was zaubern Sie aus ihrem Hut, Herr Professor?“

„Wie wäre es mit einigen sehr tief liegenden Sätzen der Zahlentheorie, deren Problemstellung jeder verstehen kann?“
„Nur zu, fordern Sie uns!“, zwitschert die Moderatorin.
„Es gibt einzigartige Untersuchungen über die unendlichen Zahlen, die unter Mathematikern im neunzehnten Jahrhundert für Furore gesorgt haben.“
„Davon hab ich schon gehört. Damit verbindet sich der Name Gregor Castor, ja?“ Natürlich muss Frau Zwitschka zeigen, dass sie sich vorbereitet hat. Und die unendlichen Zahlen waren als Thema vorher abgesprochen, wenn auch nicht im Detail.

„Fast richtig, Antje! Georg Cantors Forschungen waren damals sensationell und sind heute jedem Mathematikstudenten geläufig. Dazu begeben wir uns auf das Gebiet der Kardinalzahlen, die man als die Anzahl der Elemente einer Menge bezeichnen kann. Die Kardinalzahl sieben entspricht einer Menge von sieben Salatköpfen und ist ebenso einer Menge von sieben Strumpfhosen zugeordnet. Ihre gefällt mir übrigens ausgezeichnet.“
Frau Zwitschka versprüht ein feuchtes Lachen: „In der Tat, das ist leicht verständlich!“
Sie schlägt die bestrumpften Beine übereinander und Herr Semil kann sie einen Augenblick in voller Länge bewundern.

„Bei endlichen Strümpfen gab es auch nie Probleme mit der Mächtigkeit und dem gleichzusetzenden Fachbegriff der Kardinalität, der, salopp formuliert, dazu dient, die „Größe“ von Mengen zu vergleichen, liebe Anje. Der Knackpunkt ist die Betrachtung unendlich gr0ßer Mengen.“
Die Brille der Moderatorin rutscht auf ihre Nasenspitze. „Hm, die Vorstellung einer unendlichen Anzahl von Schuhen ist sehr anregend, Mathis.“
„Eben! Doch zur damaligen Zeit gaben sich die Damen mit weitaus weniger zufrieden. Die Unendlichkeit war außerdem eine Eigenschaft Gottes und damit ein Tabu für die Wissenschaft.“
Der Professor bewundert die mintgrünen Pumps, die mittlerweile seine Waden touchieren. Und noch mehr diese Strümpfe!

Mit einer guten Portion Ironie stellt Frau Zwitschka ihr Halbwissen zur Schau: „Castor war also ein Revolutionär, das ist ja spannend!“
„Fein beobachtet, dieser Mann namens Cantor stellte sich unter anderem die Frage, ob es weniger gerade Zahlen gebe als Zahlen überhaupt.“
„Ich liebe Ihre suggestiven Fragen, die aufs Glatteis führen, Professor. Man sieht doch auf einen Blick, dass es nur halb so viele gerade Schuhe, äh, Zahlen gibt, 1, 3, 5 sind ja nicht dabei.“

Etwas plumpst geräuschvoll zu Boden. „Huch“, stöhnt die Moderatorin ins Mikro, was auch einen Mathematiker nicht ganz kalt lässt.
„Das zieht einem die Schuhe aus, ich verstehe. Und nun machen Sie sich auf eine Überraschung gefasst: Wann sind denn zwei Mengen gleich groß?“
„Nun, wenn sie gleichviele Elemente enthalten, so habe ich es in der Schule gelernt“, antwortet Frau Zwitschka.
„Gut aufgepasst! Sie waren wohl schon damals so aufgeweckt wie heute. Aber zurück zur Mathematik, bei endlichen Mengen passt diese Formulierung. Und die Definition der sogenannten Gleichmächtigkeit führt bei endlichen Mengen zum gleichen Ergebnis. Aber Antje, ich erspare Ihnen das Fachchinesisch aus Äquivalenzrelation, Auswahlaxiom und Bijektion, das Ihnen und den Zuhörern nur den Kopf rauchen lässt, obwohl es dafür sorgt, dass man auch unendliche Mengen vergleichen kann.“

Das irritierte Räuspern der Moderatorin wirkt aufgesetzt.

„Aha! Wie wir uns das vorzustellen haben, erklärt Professor Doktor Mathis Semil nach einer musikalischen Atempause, bleiben Sie bei uns!“
Iron Maiden zwängt sich durch die Leitungen und versetzt sowohl den Mathematiker als auch alle Anwesenden in Hochstimmung.
„Sie müssen etwas lockerer werden, Herr Professor! Trinken Sie einen Sekt mit mir“, bedrängt Antje den Mathematiker.
„Nun, mir ist schon locker zumute, aber … runter damit. Doch ich warne Sie, ich vertrage nicht viel.“
„Ein Gläschen in Ehren …“, beschwichtigt die Moderatorin.

„The Number of the Beast, wie treffend, liebe Antje!“ Herr Semil springt auf und schüttelt seine grauen Locken. Frau Zwitschka reibt sich indes die geschwollenen Beine, nippt an ihrem Wasser und zeigt sich äußerst professionell in der folgenden Moderation.
„Die Zahlen eines Tiers scheinen Ihnen zu gefallen, Professor, leider haben wir Ihre körperliche Nähe zur Musik nicht in allen Facetten transportieren können, nun denn, wie steht es um diese seltsame Gleichmächtigkeit?“
Mathis verliert sich für einen Augenblick: „Dazu müssen wir Ihren Ausschnitt, ähm, Abbildungen zwischen den Mengen betrachten. Wenn es solch eine Strumpfabbildung, die ja eine Zuordnungsvorschrift ist, mit bestimmten Eigenschaften gibt, bezeichnen wir die Salat-Mengen als gleichmächtig.“
„Wundervoll!“, bestätigt Frau Zwitschka, die selbstverständlich einen Beweis fordert.
„Betrachten wir die Buchstaben des Alphabets und die Menge der Zahlen von 1 bis 26. Wir ordnen jedem Buchstaben eine Zahl und jeder Zahl einen Buchstaben zu, solche Abbildungen heißen Tralala-Bijektionen.“
„Nett und durchaus nachvollziehbar, aber was bringt uns das …?“, hakt Antje nach.

Herr Semil fährt sich mit beiden Händen durch die Haare. „Ganz einfach, für unseren Fall nehmen wir als Abbildung für jede Zahl a die Vorschrift: Abbildung von a gleich 2 mal a, wir vermoppeln also die Ausgangszahl. Erstens können wir so jeder Zahl das Doppelte zuordnen. Zweitens wird jeder geraden Zahl genau eine ganze Zahl zugeordnet, nämlich die Hälfte. Folglich ist diese Abbildung eine Bijektion, und die beiden Mengen sind gleichmächtig. Ist das nicht genial? Cantor hat es mit diesem Beweis den Spinnern und Idioten gezeigt!“
„Ich versteh nur noch Bahnhof, Professor!“, gesteht die Moderatorin, während sie mit ihren Kollegen tuschelt und das Ende des Interviews in wenigen Minuten per Handzeichen andeutet.

„Nun lassen Sie mich Folgendes abschließend darstellen, Frau Antje, denn es kommt noch besser!“, offeriert der Professor.
Noch besser?!“, ächzt Frau Zwitschka.
„Doch, natürlich, denn jetzt kommt der Zweitupel-Salatkopf!“, entgegnet Herr Semil.
„Der was?“
„Das ist ein Gebilde a, b in Klammern, wobei a und b Zahlen sind. Man erhält so alle Kombinationen von ganzen Zahlen, das ist doch klar, oder? Wenn Sie in der ersten Arrestzelle für a eine 1 schreiben und in der zweiten für b nacheinander alle ganzen Zahlen durchmusizieren, dann wird deutlich, dass diese Menge gleichmächtig zu den ganzen Zahlen ist, Wahnsinn, gell?“
„Sie sehen mich sprachlos. Geradezu evident, Professor!“ Inzwischen ist Antje Zwitschka froh, dass man weder Mathis‘ noch ihr Gesicht TV-technisch bewundern kann.

Mathis Semil lamentiert unbeirrt weiter: „Wenn man nun auch die erste Zelle variabel verunstaltet und alle ganzen Zahlen durchlaufen lässt, wird die Menge sehr viel größer, meint der gemeine Affe. Nämlich unendlich multipliziert mit unendlich! Das klingt doch nach was!“
„Wie eine zwei-mal-zwei-Schleife, die nicht aufhört?“
„Genau, gut aufgepasst, Antje. Aber Ätsch! Diese neue Menge ist ebenfalls abzählbar, also gleichmächtig zur Menge der ganzen Zahlen. Das hat Cantor bewiesen! Und sie ist nicht größer, wie Sie gedacht haben, oder etwa nicht?“
Mathis lacht stotternd wie ein Motor auf dem letzten Tropfen Benzin und Antje ist beleidigt.

„Ein Scheiß …, ups, Schweißlaken für die gesamte Belegschaft, sofort!“, fordert die Moderatorin an, doch der Enthusiast lässt sich nicht aufhalten.
„Wenn Sie, liebe Antje, nun Dreitupel nehmen oder irgendeine andere endliche Zahl, ändert sich nichts, es bleibt abzählbar.“
„Das ist doch langweilig“, wirft die Moderatorin mit letzter Kraft ein.
„Eben nicht!“, fügt Herr Semil an.
„CUT, WERBUNG!“, brüllt der Aufnahmeleiter aus dem Off.
„Cantor hat gezeigt, dass es für Unendlichtupel keine bijektive Abbildung zur Menge der natürlichen Zahlen geben kann. Dafür hätten ihn konservative Mathematiker am liebsten gekreuzigt, geteert und gefedert, oder mit spitzer Feder durchbohrt. Dabei ist der Beweis so unglaublich einfach und schön! Soll ich …?“
„NEIN! Ihre bisherigen Darlegungen führen uns eindringlich vor Augen, dass man auch zur Mathematik ein zärtliches Verhältnis haben kann, wenn man will, vielen Dank, Professor Mathis Semil!“, grunzt Frau Zwitschka.

Wenig später in der Radaktion:
„Ist er weg?“
Antje nickt.
„Gott sei Dank …! Ein Irrer!“

© by aweiawa, 2013
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Letzte Aktualisierung: 26.08.2013 - 20.23 Uhr
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