Feuer und Flamme | August 2013
| Miss Kitty beeindrucken | von Jochen Ruscheweyh
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Der Pistolenlauf drückte gegen meinen Rücken. „Die Stadt ist zu klein für uns beide, Fremder! Leg deine Kanone ab, sattel deinen Gaul und such dein Glück in Mexiko!“
Ich war mir ziemlich sicher, dass es dieser Ingenieur aus Balve war, der mich vor sich hertrieb und mir dann einen Stoß versetzte. Zwei Strohballen dämpften meinen Sturz zwar etwas ab, aber die Minusgrade hatten die gelben Quader hart wie Stein werden lassen und die herausstehenden Halme so starr und unbiegsam, dass sie wie Nadeln in meine Hände stachen.
„Ein Score am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen, Michael. Du weißt, was demjenigen blüht, der den schlechtesten Schnitt bis Sonntag macht.“
Anja hatte mir in der Tat verraten, was mit dem Verlierer der Wochen-Challenge geschehen sollte.
In meinen Augen schmeichelte der Ausdruck Town Council dem Triumvirat aus einem Kurzwarenhändler, einem Kreisbeamten und einer REWE-Filialleiterin, die die Bestrafung festgesetzt hatten, reichlich. Aber genau wie dieses obskure Gremium hielt meine neue Freundin es für einen riesengroßen Spaß, das Greenhorn mit den wenigsten Punkten leicht bekleidet durch das winterliche Western-Dorf zu treiben. Genauso, wie sie den anderen Unfug, der in diesem Wild-West-Wochenendclub zelebriert wurde, mit jeder Phase ihres Körpers lebte.
Ich fror, als ich den schlaglöchrigen Weg mit den vereisten Pfützen zu dem Haus lief, das Anjas Vater aus Sauerländer Kiefern erbaut hatte. An das Pendeln zwischen Dortmund und Klein-Dodge-City jedes zweite Wochenende hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Auch daran, dass Anja wie viele Sauerländer Frauen der Meinung war, die rechte Spur der A45 sei nur für LKW. Nur mit der im Dorf vorgeschriebenen Garderobe hatte ich immer noch Schwierigkeiten. Im normalen Leben hätte ich eine gefütterte Outdoor-Jacke getragen. Hier in der Western-Diaspora südlich von Lüdenscheid bestand mein Kälteschild aus einer Fransenlederjacke und einem hauchdünnen Halstuch mit galoppierenden Mustangs darauf.
Anja empfing mich in einem ihrer tief ausgeschnittenen Miss-Kitty-Rüschenkleider, die sie bei ihrem Job im Dorf-Saloon trug, und dankte mir auf ihre nicht unangenehme Weise für den grob gemahlenen Kaffee, den ich im Drugstore geholt hatte.
Ich dachte darüber nach, wie sehr ich Anja trotz ihres Western-Spleens liebte. Oder war es gerade deswegen? Ich konnte es nicht sagen.
Sie richtete ihr Kleid. „Ich muss mich jetzt für meine Schicht fertig machen. Denk dran, heute ist Clubabend am Lagerfeuer. Ich geh direkt vom Saloon rüber, komm nicht zu spät, ja?“
Ich wollte uns eigentlich etwas kochen und den Kamin anzünden, war der Satz, den ich mir parat gelegt hatte, aber Anjas „Ich liebe dich!“ und der ihrem Geständnis folgende Kuss verschlossen meinen Mund, so dass mein Gegenvorschlag in einer anderen Dimension versickerte wie ein Prärie-Regen auf erodiertem kalifornischen Boden.
„Du hättest niemals etwas mit dieser Anja anfangen sollen. Warum musst du dich immer in Frauen verlieben, die vollkommen verstrahlt sind?“
Ich drückte meine Zigarette aus und ließ den Rest - im Westerndorf waren nur Selbstgedrehte ohne Aktivkohlefilter erlaubt - zwischen den fachmännisch verzapften Stämmen verschwinden.
„Ganz schön viel Lebensweisheit für eine kleine Schwester, Andrea!“, sagte ich in mein eingeschmuggeltes Mobiltelefon, dessen Benutzung hier streng verboten war. „Was schlägst du vor?“
„Wenn du sie wirklich liebst und dir nicht für den Rest deines Lebens diesen Konkurrenzkampf mit ihren Cowboyfreunden geben willst, solltest du diese Challenge gewinnen.“
Obwohl ich zwei Wollpullover unter meiner Fransenjacke anhatte und die Flammen des Feuers bestimmt eineinhalb Meter in die Höhe loderten, fand ich den Clubabend extrem ungemütlich. Anja hingegen explodierte förmlich. Sie lachte, trank Bier aus großen Krügen, grölte Cowboylieder und raffte im Takt von Cotton Eye Joe ihren Rock vor ihren dümmlichen Bauerntrottel-Freunden, deren Indianer-Tätowierungen im Schein des Feuers von ihren unbeärmelten Oberarmen glänzten wie frisch mit Spucke angebrachte Abziehbilder.
Ich musste dagegen wie eine frustrierte Großstadt-Spaßbremse wirken, die sich nicht auf Abenteuer und Romantik einlassen konnte. Andererseits war dieses Nord-Süd-Kulturgefälle vielleicht der Grund dafür, dass die Karl-May-Festspiele im sauerländlichen Elspe und nicht in Dortmund-Dorstfeld oder Essen-Borbeck stattfanden.
Kälte in Verbindung mit Alkohol hatte schon immer eine durchschlagende Wirkung auf meine Blase. Und auch wenn die Eifersucht in mir glühte wie ein Stahlabstich bei Thyssen Krupp, blieb mir keine Wahl.
Ich musste einfach.
Die eisigen Temperaturen hatten meinen Gringo - wie Anja meinen Penis nannte - auf die Größe einer dieser Gourmet-Kugelmöhren geschrumpft, die preiswerte Partybuffets kulinarischer aussehen lassen. Dementsprechend schwer fiel es mir, ihn aus meinem Slip und dem Eingriff meiner Lederhose herauszuwühlen, als ich plötzlich gepackt wurde und einen dumpfen Schmerz in beiden Oberschenkeln spürte. „Doppelseitiger Pferdekuss, Michael! Da haben wir dich aber fett gescored! Harharhar!“, bog sich Wilfried, ein untersetzter Pferdewirt mit Fingern wie Mettwürste, vor Lachen.
„Ich find’s toll, dass du dich so gut mit meinen Freunden hier verstehst. Wer Anja will, der muss das Komplettpaket wollen, verstehst du, wie ich meine?“ Sie legte ihren Kopf auf meine Brust. „Du hast ja eine Gänsehaut, komm, ich mach dich warm.“ Anjas Hand zuckte bereits ein paar Mal verräterisch, als sie über meine Oberschenkel rieb und kam schließlich wohl mehr zufällig auf meinem Gringo zu liegen, denn einen Moment später begann sie zu schnarchen.
Wie sehr wünschte ich mir jetzt eine DVD, die mich in den Schlaf duselte, meinetwegen auch aus Anja's Rauchende-Colts-Box. Aber DVD und BlueRay waren hier so erwünscht wie Karl Mays Ölprinz bei einer OPEC-Konferenz.
Obwohl ich Arbeiterkind und Ruhrpottler bin, habe ich mir noch nie viel aus Alkohol gemacht, weil ich finde, er gaukelt den Menschen vor, jemand zu sein, der man in Wirklichkeit nicht ist. Und so löste das Bier vom Vorabend bei mir Ungeübtem eine mittelschwere Morgendepression aus. Konnte ich auf Dauer mit Anja mithalten oder würde unsere Beziehung daran scheitern, dass ich einfach nicht wild bunch und kreativ genug für ihren Lebensstil war?
Ich beschloss, Anja ausschlafen zu lassen und verordnete mir selbst einen Spaziergang an frostiger Luft. Medizin muss schließlich bitter schmecken.
„Na, auch eine Aktive durchziehen? Wollen wir ein Stück zusammen gehen?“ Olga, die Drugstore-Verkäuferin, war mir gleich sympathisch gewesen, als ich das erste Mal dort eingekauft hatte.
„Bei uns in Menden ist der Hund begraben und es gibt dort niemanden, der ihn ausbuddeln könnte. Aber hier sind die Leute echt und geradeheraus“, beschrieb mir Olga ihre Motivation, mit ihrem Mann hierher zu kommen. Und es sei eine nette Abwechslung zu ihrem Job als Fußpflegerin.
„Anja ist sehr hübsch“, fuhr sie fort, „und hat ordentlich was im Kopf, aber ich finde es widerlich, wie sie mit unseren Männern flirtet. Macht dir das nichts aus?“
Ich blieb stehen, aber anstatt zu bestätigen, dass ich wohl das war, was man im Western-Jargon einen Jealous Lover nennt, jemand, dem die Eifersucht die Magenschleimhäute verätzt, zuckte ich nur mit den Schultern und gab mich weltoffen aufgeklärt: „Ich vertraue Anja.“
Olga trat einen Tannenzapfen vom Weg. Ich sah hinterher, wie sich das geschuppte Etwas bergab in Richtung des überfrorenen Bachlaufs walzte. „Aber dir wäre wohler, wenn du mit den anderen Kerlen hier mithalten könntest, oder?“
Ich trat von einem Bein auf's andere. „Hör zu, Olga, ich kann mit den anderen Kerlen hier mithalten!“
Sie schoss zwei weitere Zapfen in die kleine Schlucht rechts vom Weg.
Auch ich kickte vor eine braune Kiefernfrucht, die gegen einen Baum prallte und nicht einmal die Hälfte des Weges talwärts schaffte.
„In Ordnung“, sagte ich, „anscheinend hast du so etwas wie einen Plan. Warum verrätst du ihn mir nicht einfach?“
Bis Sonntagabend geschah eine Menge. Ich wurde von zwei mit saurem Apfel abgefüllten Werdohler Feuerwehrleuten symbolisch, dreimal von einer Rappe Stroh getroffen und ein weiteres Mal von einer vorbeifahrenden Kutsche angegriffen. Ich ließ all das über mich ergehen, in dem Bewusstsein, mit Olgas Hilfe die gefühlte Hierarchie im Dorf auf den Kopf stellen zu können.
„Du wirkst heute Abend so anders, so selbstbewusst, wie du gerade durch die Tür gekommen bist“, stellte Anja fest, während sie mir einen Whisky einschenkte.
„Für wen soll der sein?“, fragte ich.
„Ich dachte, zum Aufwärmen für dich. Nach den Scores liegst du ziemlich weit hinten.“
„Verwahr den Whisky lieber für die Sauerländer Inzest-Brut hier“, raunte ich ihr zu, lief um den schnitzereiverzierten Schanktisch herum, zog den roten Gummischlauch von der Propangas-Kochstelle, die meine Komplizin Olga totgelegt hatte, hielt ihn mit einer Hand hoch, und ließ mit der anderen mein Feuerzeug aufflammen. „Mega-Score, ihr Pfeifen!“, rief ich und zählte: „Sechzehn, siebzehn, achtzehn Möchtegern-Cowboys auf einen Streich. Ich würde meinen, Ruhrgebiet gegen Hochsauerlandkreis 1:0!“
Niemand rührte sich, und auch Olga starrte gebannt auf Anja, die ausholte und mir eine runterhaute. Dann sah meine Freundin mich an wie die sterbende Nscho-tschi Old Shatterhand und sagte: „Ich denke, du hast es vermasselt.“
Es war, als hätte jemand einen Schalter in Olga umgelegt, als diese auf Anja zuging und den Arm um sie legte. „Schätzchen, der Typ glaubt, er ist etwas Besseres als wir, weil er in einer Umweltzone wohnt und sich Theaterstücke in alten Fabriken anguckt. Der ist nichts für dich. Den können wir hier nicht gebrauchen.“
„Aber Olga“, begann ich, „du hast doch selbst ...“
„Siehst du“, schnitt mir die Fußpflegerin das Wort ab, „er kann noch nicht mal Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Wie ein Kind!“
„Du bist hier nicht mehr willkommen, Arschloch!“, schrie mir Wilfried, der untersetzte Pferdewirt, ins Ohr.
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Letzte Aktualisierung: 27.08.2013 - 08.25 Uhr Dieser Text enthält 10230 Zeichen. www.schreib-lust.de |