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Auferstehung | September 2013

Der Spieler
von Ingeborg Restat

Jemand tritt ihm in die Rippen. Davon wird er wach. „Mach dich vom Acker, das ist mein Platz!“, sagt einer.
Langsam kommt Bernhard zu sich. Das Licht einer Taschenlampe leuchtet ihm ins Gesicht, blendet ihn. Er legt die Hände über die Augen und versucht zu erkennen, wer da vor ihm steht - ein Hüne, eine drohende Gestalt mit tief ins Gesicht gezogenem Hut! Wo ist er überhaupt? Was ist geschehen?
Kalt überfällt ihn das Bewusstsein: Er besitzt nichts mehr, alles verloren, alles verspielt. Unter einer zugigen Brücke liegt er hier. Hilf- und ratlos war er umhergelaufen, als sich die Tür seines Hauses hinter ihm geschlossen hatte, das nun anderen gehört, Erst als es dunkel wurde, war er unter die Brücke gekrochen.
„Wird’s bald?“ Unsanft wird er erneut angestoßen.
„Ja doch!“ Er rappelt sich hoch, greift nach seinem Mantel und nimmt seinen Rucksack auf, in dem alles das ist, was er noch hat.
„Lass dich hier nicht noch einmal erwischen!“, knurrt der Hüne und stößt ihn zur Seite. Er taumelt, will ihm etwas zornig erwidern, sackt dann aber in sich zusammen..
„Komm her, Kumpel! Hier ist ein Platz, der auch nicht so zugig ist“, ruft jemand aus der Dunkelheit und ein Feuerzeug flammt an der anderen Seite der Brücke auf.
Bernhard geht hinüber. Im flackernden Schein erkennt er ein bärtiges Gesicht, aus dem zwei helle Augen ihm freundlich entgegenschauen,
„Leg dich hierher. Mit dem da ist nicht gut Kirschen essen“, murmelt der andere und weist auf einen Platz neben sich hinter einem Brückenpfeiler.
„Danke!“ Ohne ein weiteres Wort lässt Bernhard seinen Rucksack fallen, legt sich mit dem Kopf darauf ins Gras und deckt sich mit seinem Mantel zu. Er will nur schlafen und nicht mehr denken müssen.
Das Feuerzeug klickt, die Flamme erlischt. Schattenhafte Konturen zeichnen sich in der Dunkelheit ab und ein leichter, noch warmer Spätsommerwind streicht über sie hin. Irgendwo rascheln Mäuse, eine Fledermaus saust lautlos unter der Brücke hindurch und das Wasser des Flusses plätschert leise.
Aufgewühlt liegt Bernhard jetzt wach mit offenen Augen.
Sieht es der andere? „Ist es deine erste Nacht auf der Straße?“, fragt er.
„Ja“, antwortet Bernhard kurz.
„Alles verloren?“
„Ja.“
„Und keine Freundin, die dir beistehen würde?“
„Nein.“
„Die war wohl schneller weg, als du denken konntest, sobald dir das Geld ausging?“
Bernhard schweigt.
„Gab es auch keinen Freund, zu dem du hättest gehen können?“
„Nein,“
„Was ist mit Frau und Kindern?“
„Schon lange her.“
„Haben sie dich verlassen?“
„Was fragst du?“, knurrt Bernhard unwillig.
„Schon gut! Ich bin Will. Möchte ja nur wissen, mit wem ich es zu tun habe.“
„Warum?“
„Ich könnte dir zeigen, wie man auch in unserer Situation besser leben kann. Es gibt da so kleine Tricks.“
„Wozu?“ Lebhaft richtet sich Bernhard jetzt auf. Er stützt sich auf einen Ellenbogen und schaut zu der im Dunkel schemenhaften Gestalt neben sich. Will kann nicht sehen, wie seine Augen dabei blitzen, als er erklärt: „Glaube nur nicht, dass ich in dieser Lage lange bleibe. Ich nicht! Ich war schon oft fast am Ende und habe mich immer wieder aufgerappelt.“
„Soso! Und wie hast du das gemacht?“
„Mir fehlt nur eine Glückssträhne. Dann bin ich wieder raus aus dem Dilemma.“
„Ach so! Du bist ein Spieler?“
„Nenn das, wie du willst. Du wirst sehen, die Glückssträhne kommt. Ich muss ihr nur eine neue Chance geben.“
„Hast du noch nichts dazugelernt? Tiefer kannst du nicht mehr sinken. Womit willst du wieder anfangen?“
„Das wird sich finden, auch jetzt, wie schon so oft.“ Und nun erzählt er von seinem Leben, von der Leidenschaft, dem Spiel, erst in Kasinos, dann in Spielhallen, in Hinterzimmern von Kneipen, und wie er zuletzt den Rest in einer Spelunke verspielt hat. „Übers Ohr gehauen haben die mich dort“, behauptet er. „Danach hätte ich nur noch etwas Geld gebraucht, um wieder hochzukommen. Doch Freunde, die vorher ständig kamen, wenn sie etwas von mir wollten, hatten plötzlich keine Zeit mehr für mich.“
„Sie kannten dich nicht mehr. Das habe ich auch erfahren. Freunde verziehen sich schnell, wenn du ganz unten bist.“
„Das wird ihnen noch Leid tun, wenn ich erst wieder zu Geld gekommen bin. Und ich schaffe das. Ja, ich schaffe das!“, sagt Bernhard leiser werdend, als wollte er sich selbst überzeugen. Dann legt er sich wieder hin und schließt die Augen.
„Ich gönne es dir. Wirklich!“, murmelt Will schlaftrunken in die nachfolgende Stille.
Ein Kauz schreit seinen Ruf in die Nacht und der Hüne auf der anderen Seite der Brücke schnarcht längst.

Am nächsten Tag jedoch sucht Bernhard erst einmal zusammen mit Will nach Pfandflaschen in Abfallkörben. Auch noch zur Tafel um ein warmes Mittagessen gehen sie zusammen. Dann trennen sich ihre Wege.
Als Will ihn am Abend wieder sieht, sitzt er im Park in einem Kreis mit anderen Obdachlosen bei einem Würfelspiel um Cents.
„Du kannst es wohl nicht lassen? Verspielst du jetzt das, was du für die Flaschen eingelöst hast?“, fragt Will.
„Von wegen! Meine Glückssträhne scheint langsam zu kommen. Hier, schau! ich habe gewonnen“, und Bernhard klimpert mit den Münzen in seiner Hosentasche.

Tage später wagt er sich schon in einen Laden mit Spielautomaten. Auch hier klimpern die Münzen nur so heraus.
Will schüttelt seinen Kopf. „Hör auf und freu dich am Gewinn, ehe du alles wieder verspielt hast“, mahnt er.
Doch Bernhard hört nicht auf, kann gar nicht aufhören. „Es geht los, es geht los! Ich spüre es“, jubelt er.
„Warum versuchst du es dann nicht mal im Lotto, wenn du so von deiner Glückssträhne überzeugt bist“, schlägt Will vor, als sie an einem Laden mit Lotto-Annahmestelle vorbeikommen.
„Du hast Recht!“, stimmt Bernhard zu. Geht gleich hinein und füllt einen Lottoschein aus.
Selbst Will wartet jetzt gespannt auf die Ziehung am Wochenende.

Und Bernhard gewinnt! Gleich mehrere Hunderttausend Euro.
Will versteht die Welt nicht mehr und Bernhard jubelt: „Ich habe es geschafft! Ich habe es dir gesagt und du wolltest es nicht glauben.“
„Dann höre auf. Jetzt hast du genug, um damit leben zu können. Fordere dein Glück nicht zu sehr heraus“, rät Will ihm.
Bernhard aber lehnt das sofort ab. „Bei der Gewinnsträhne? Unmöglich!“, erklärt er.
Er kauft für Will, was ihm nur einfällt. Bald hat er auch eine Wohnung und bietet Will an, zu ihm zu kommen. Doch der will an seinem Spielerleben nicht teilhaben, das ihm fremd ist. Er bleibt lieber unter seiner Brücke, solange es dazu noch nicht zu kalt ist.
So trennen sie sich und jeder geht seinen Weg.
Bernhard hat bald eine neue Adresse und ist wieder wer. Er spielt, wo sich ihm eine Gelegenheit bietet, und zeigt jedem, dass er Geld hat. Er kehrt in die Kreise zurück, die ihn ausgeschlossen hatten und staunt, wie viele Freunde sich plötzlich an ihn erinnern. Sogar seine Freundin will wieder mit ihm anbandeln. Er aber weist sie zurück, Er kann es ihr nicht vergessen, wie sie ihn verhöhnt und verlassen hat, als er ihr nicht mehr alle Wünsche erfüllen konnte. Mädchen finden sicht jetzt ohnehin leicht für ihn. „Sogar an jedem Finger zehn“, rühmt er sich. So lebt er sorglos dahin, immer bemüht, im Spiel seinen Reichtum zu vermehren.

Es ist bereits einige Zeit vergangen, als Will Bernhard auf der Straße begegnet. Der aber geht mit seiner Begleiterin wortlos an ihm vorbei. Sieht er ihn nicht oder schämt er sich jetzt für den Alten mit der abgetragenen Joppe, dem Stoppelbart und der komischen Mütze? Hat er vergessen, wie das ist, ganz unten und arm zu sein?
Will dreht sich nach ihm um, sieht ihn lachend mit der anspruchsvoll gekleideten Frau in einen teuren Sportwagen einsteigen, und murmelt vor sich hin: „Noch kannst du es dir leisten, stolz zu sein. Doch wer weiß, wie lange es dauert, bis du alles erneut verspielt hast.“ Dann wendet er sich ab, zieht seine Mütze tiefer über die Ohren und geht weiter seinen Weg von Abfallkorb zu Abfallkorb.

Letzte Aktualisierung: 20.09.2013 - 23.35 Uhr
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