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Auferstehung | September 2013

Ein Held
von Hajo Nitschke

„Bernd! Ich habe Sie etwas gefragt!“

Diese Stimme wieder ...



… die in sein Unterbewusstsein dringt. Gina! Seine Gina, die dennoch nicht sein Mädchen ist! Ihre Schreie gellen schrill und langgezogen. Die Gleise vibrieren. Es ist wie ein beginnendes leises Singen. Er zwingt sich, die zugeschwollenen Augen zu öffnen und sieht, noch in der Ferne, einen Lichtpunkt. Der Zug! Gina, an den Stahl gefesselt quer über dem Gleiskörper liegend, windet sich. Schreit und windet sich. Vergeblich.

Er liebt Gina. Aber er ist ein schüchternes Bürschchen, für die Mitschüler nur ein Außenseiter. Gina dagegen ist umschwärmt, steht überall im Mittelpunkt. Besser gesagt, stand, denn der Lichtpunkt wird größer.



„Aufstehen, Bernd! Kommen Sie nach vorn!“


Schwankend kommt er auf die Füße. Während er vorwärtshinkt, weiß er: Wenn Gina jetzt stirbt, ist sein Leben sinnentleert. Glühende Liebesbriefe schrieb er, um sie alle zu zerreißen. Er schaffte es nie, seine Liebe zu gestehen. Verstellte sich, gab den Gleichgültigen, obwohl jede zufällige Berührung einem Stromschlag glich. Errötete dennoch mehrfach. Niemandem fiel es auf, denn er selber ist ein Niemand. Einen Niemand bemerkt man nicht. Auch nicht, wenn er seiner Flamme heimlich folgt, wie jetzt am späten Abend.

Die Melodie der Schienen schwillt an. Mozarts Totenmesse wird zu Ginas Requiem: „Di-es i-rae, di-es il-la!“, pochen die Gleise in zermürbender Wiederholung. Tage des Zorns, jene Tage … Alfred wendet ihm den Rücken zu, wohl in der Annahme, ihn erledigt zu haben. Doch er irrt. Bernd wird aufstehen. Seine Gedanken rasen: Alle haben Angst vor dem brutalen Muskelpaket. Weil Gina den Lumpen sitzenließ und mit Rudi ging, will Alfred (der sie seither nur noch 'Fotze' nennt) sich auf diese Weise rächen.



„Bernd, ich warte! Wie viel …?“


Wie viel Zeit noch? Zu wenig. Alfred hat ihn zu Boden gestreckt, als er sich in der Dunkelheit bemerkbar machte, „Halt!“ schrie, und „Hilfe!“, erschrocken über die eigene Courage. Hat auf ihn eingetreten, wieder und wieder. Er war nicht mehr auf die Beine gekommen. Schläge auf Rippen und Leber, kein Atemzug mehr möglich. Als sich Alfred von ihm abwandte, verlor er die Besinnung, lag wie tot neben dem Gleis.

Vorbei der Zeitrafferstreifen. Verzweiflung mischt sich mit Wut. Lauter singen die Gleise. Wie von Sinnen springt Bernd die Bestie an. Die Todesfurcht setzt neue Kräfte frei. Zweikampf auf den Gleisen. Er drischt auf seinen Widersacher ein, schlägt krachende Haken, pausenlos. Steckt selber die schlimmsten Hiebe ein, lässt sich aber diesmal nicht aufhalten. Irgendwie gelingt es ihm, Alfred auszuknocken, der auf dem Gleis zusammenbricht: sein Todesurteil.



„Hören Sie mir überhaupt zu?


Er hört nur das Inferno der bremsenden Lok. Funkenregen: der Zug rutscht kreischend näher. Dass der jetzt Ohnmächtige die Schlüssel um den Hals trägt, hat Bernd noch bemerken können. Sie runterreißen und mit einem einzigen Satz sich bei Gina niederwerfen ist eins. Die Handschellen fallen wie durch ein Wunder beim ersten Versuch, doch nun ist der Zug heran. Bernd reißt die vor Entsetzen wie Gelähmte hoch und ...


***


„Bernd! Wiederholen Sie bitte meine Frage!“

Nur mühsam findet er aus seinem Tagtraum zurück. Hat keinen Schimmer, was die Lehrerin von ihm will. Gekicher. Alfred lacht höhnisch. Zwei Tische weiter, neben der pickligen Edeltraud sitzend, dreht sich Gina um, aber er meidet ihren Blick, stottert eine Entschuldigung: Magen-Darm, die Nacht nicht geschlafen.
Hatten wir schon – wie wäre es mal mit einer Abwechslung, fragt die Lehrerin. In solchen Momenten ist er kein Niemand mehr, könnte sich aber eine angenehmere Form der Beachtung vorstellen. Wenn er allerdings bedenkt, dass Gina ohne ihn nicht lebendig und unversehrt dort vorne säße ...
Klassenbucheintrag.

Einmal, beim Schulfest, war es, als er verlegen in der Ecke hockte. So weit weg wie möglich vom Parkett entfernt. Mitten in seine Träume von einem vollendeten Tanz mit „ihr“ war es wahrhaftig – Gina, die lächelnd auf ihn zusteuerte. Ihn unter langen, dunklen Wimpern strahlend anlächelte, eine langbeinige, blondgelockte Schönheit mit perfekter Gesichtssymmetrie. Plötzlich verstummte der Discofox, es gab nur noch sie beide. Schweiß brach aus, denn als Tänzer war er ein Tollpatsch. Aber wenn das für einen Engel nicht zählt, weil der die inneren Werte erkennt … Das Herz schien ihm zu zerspringen, als der Engel …

… Alfred an sich drückte. Alfred, der damals – vor Rudi – noch Ginas Verehrer war und durch den Hintereingang soeben den Saal betreten hatte. Wäre es doch nur diesmal ein Traum! Die Blamage! Aber das Pärchen hat den puterrot Gewordenen gar nicht bemerkt. Bernd, der Nobody, schlich mit glühenden Ohren nach Hause, wo er behutsam und voller Sehnsucht seinen Schatz an den Mund drückte: einen Trinkbecher aus Plastik, der ihm in „seiner“ Welt als Kuss-Mittler diente. Gina hatte ihn irgendwann auf dem Pausenhof weggeworfen, aber vorher dem Plastikrand ihre vollen, gepflegten Lippen geschenkt.


***


Träumen mit offenen Augen …

Sternstunde in der Geschichte der Schule: Bernd demonstriert die Hauptsätze der Integral- und Differenzialrechnung so souverän, dass es ihm eine glänzende Zukunft als Mathematikprofessor beschert – mit Gina als liebende Gattin an der Seite. Das aber, was man unter dem Vollzug der Ehe versteht, wagt er sich nicht bis ins Letzte auszumalen. Manchmal, wenn er an diese atemberaubende Oberweite denkt, schleichen sich zwar scheue Ansätze von „mehr“ in seine Visionen, reißen aber ab. Dass er Gina fast zu einer Heiligen verklärt hat, hemmt: Eine Heilige betet man an, aber – in Alfreds Jargon – man bumst sie nicht, auch nicht in Gedanken.

Gängig auch Heilungs- und Pflegefantasien:

Gina, ans Bett gefesselt. Ein gefährlicher Virus rafft den schönen Körper dahin. Bernd pflegt sie aufopferungsvoll, der Ansteckungsgefahr nicht achtend. Gibt ihr neuen Lebensmut und stärkt die Selbstheilungskräfte. Fortan gehört sie ihm. –
Oder sie wird von einer Schlange gebissen, liegt sterbenskrank in der Wildnis – er schlägt blutrünstige Wilde in die Flucht und ist im letzten Augenblick mit dem Gegengift zur Stelle. Gina haucht, Tränen in den Augen, er möge sie nie verlassen.


In solchen Heldentaten ist er der mutigste Mensch der Welt.

Eine Bergtour: Gina am Abgrund hängend – er hält ihre Hand eisern umklammert und zieht das Mädchen mit übermenschlicher Kraft über die Kante. Dabei stürzt er selber ab. Als er im Krankenhaus erwacht, beugt „sie“ sich über ihn und flüstert immer wieder seinen Namen. –
„Der englische Patient“ in Bernds Fassung: Er schießt Staffeln feindlicher Jagdflieger ab und erreicht zeitig genug die Höhle in der Sahara, um die Geliebte in die Arme zu schließen und mit ihr dem deutschen Militär zu entkommen. Kristin Scott Thomas natürlich mit dem Gesicht Ginas ...



***


Diesmal kein Traum, sondern seine Flitterwochen. Gina war längst zu Alfred, dem Klassenprimus, zurückgekehrt. Sie sind jetzt, Jahre nach der Schulzeit, immer noch ein Paar. Vorbei die Tage des Zorns. Bernds frisch Vermählte ist Edeltraud, und sie hat auch das Gesicht von Edeltraud. Ein hübsches Gesicht ...

Sie kuscheln auf dem Laken, das eben, vor Bernds „Geständnissen“, noch Schauplatz heftiger, erfolgreicher Annäherung war. Bernd kann schon wieder neu „einsteigen“, wie die junge Ehefrau bemerkt. Seine Beichte all jener Fantasien hat sie lächelnd angehört, auch wenn sie einer Anderen galten. Sie kennt ihren Bernd mit seinen erhebenden Gedanken: ein ganz Lieber, und nun ihr Mann. Ihr ritterlicher Held, auch im Bett. Sieh an, wie kühn er in diesem Moment wieder seine Lanze aufrichtet! Erhebung der besonderen Art, ihr nur recht, aber vorher ...

„So so, Bernielein, du warst ein toller Held, nicht wahr?“
(Bernd: erwidert ihr Schmunzeln, sein kleiner Held ebenfalls ...)
„Warst der Kühnste und Stärkste, wenn's drauf ankam, was?“
(Bernd: nickt grinsend.)
„Wenn du mal am Boden warst, bist du immer wieder aufgestanden ...“
(Bernd: gluckst bewusst affektiert ein „Richtig, Schatz!“)
„Und du hast den Tod nicht gefürchtet ...“
(Bernd: wirft lässig ein „Genauuu!“ hin.).
„Wie wär's denn, wenn du uns mal von ihrer Gegenwart befreist?“
(Bernd, sich umsehend: „Von wem sprichst du, Schatz?“)
„Na, von der da!“
(Bernd: entdeckt erst jetzt die kleine Spinne, die sich zwischen ihre Köpfe abgeseilt hat. Dies irae!Er springt mit einem Schrei auf, verfolgt aus sicherer Entfernung, wie sein Traudchen das Ungeheuer vorsichtig in ein Papier steckt und es kopfschüttelnd in den Balkonkasten entkommen lässt.
Manche Arbeiten müssen eben delegiert werden. Auch Helden stoßen an ihre Grenzen. Die zweite Auferstehung aber ist für heute Geschichte. Morgen ist auch noch ein Tag.)



© Hajo Nitschke, V3

Letzte Aktualisierung: 04.09.2013 - 13.16 Uhr
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