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Auferstehung | September 2013

Oma Olga und der Donnergott
von Eva Fischer

Alle nannten sie Oma Olga, obwohl sie streng genommen keine Oma war, denn sie hatte nie geheiratet oder Kinder in die Welt gesetzt. An Verehrern hatte es ihr zwar nicht gemangelt, aber Oma Olga stand auf dem Standpunkt: Für das bisschen Sex wasche ich nicht anderleuts dreckige Wäsche, vor allem nicht, wenn ich den Sex auch so kriege. Den kriegte sie freilich schon länger nicht mehr, denn Oma Olga war 77, aber sie hatte genug Gesellschaft in ihrer kleinen Hütte am Ortseingang, oder war es das Ortsende? Das kommt bekanntlich auf den Blickwinkel an. Oma Olga plädierte zunehmend für Ortsende.

Seit sieben Jahren beherbergte sie den dreibeinigen Casanova. Sein Vater war ein rechter Windhund gewesen und hatte eine Pudeldame aus feinem Haus geschwängert. Was dabei herauskam, wollte natürlich keiner so richtig haben und so geschah es, dass dem kleinen Welpen eine Pfote abgebissen wurde, vermutlich von seinem eigenen Bruder, der etwas stärker im Überlebenskampf war. Einen dreibeinigen Mischling wollte erst recht keiner haben. Da adoptierte ihn Oma Olga und gab ihm den Namen Casanova, weil sie fand, wenn selbst Zweibeinige Erfolg beim weiblichen Geschlecht hatten, konnten das Dreibeinige erst recht. Wie viele Hündinnen Casanova bereits geschwängert hatte, blieb ein Geheimnis, das weder Casanova noch Oma Olga zu lüften wünschten.

Der zweite Mitbewohner hieß Rasputin und war ein Rabe.Viel Glück hatte er bisher nicht im Leben erfahren, bevor er versehentlich durch Oma Olgas Fenster geflogen kam, denn Rasputin fehlte leider jeglicher Orientierungssinn und so verwundert es nicht, dass er schon früh seine Großfamilie aus den Augen verlor. Auch seine emsige, fortgesetzte Suche war nicht von Erfolg gekrönt. Oma Olga nahm das traumatisierte Federvieh unter ihre Fittiche und selbst Casanova tolerierte den Neuen, der zum Glück anderes Futter auf dem Speisezettel stehen hatte, was jeglichen Konkurrenzkampf ausschloss.

Die Zwillinge Tanja und Tatjana wohnten nicht weit weg von Oma Olgas Hütte, in einem seelenlosen Mietshaus, wo es nach Bier und Zigaretten und nach jeder Menge Frust stank, weil die Stadt zu wenig Arbeitsplätze anzubieten hatte.
Ihre Mutter hatte einen in der Praxis von Doktor Siebert ergattert. Darüber war sie glücklich, auch wenn sie jetzt nicht mehr viel Zeit für ihre Töchter hatte. Die beiden waren schließlich zu zweit und mit sieben Jahren schon große Mädchen. Sie konnten allein ihr Mittagessen aufwärmen und Schularbeiten machen. Trotzdem besuchten sie jeden Tag nach der Schule Oma Olga, die immer so verrückte Geschichten erzählte. Tanja kraulte dabei Casanovas rechtes Ohr, während Tatjana Rasputins linkes Ohr zwischen den Federn suchen musste. Erst wenn der Vogel die Augen schloss, konnte sie sicher sein, dass sie die richtige Stelle gefunden hatte.
Manchmal half ihnen Oma Olga auch bei einer kniffeligen Matheaufgabe. Sie verriet nur das Endergebnis und nie den Rechenweg. So blieb die erwartete Anerkennung durch die Lehrerin am nächsten Tag aus.

Oma Olgas Tage tickten im gleichmäßigen Rhythmus wie die Uhr an der Wand.
Eines Tages blieb diese jedoch stehen. Da beschloss auch Oma Olga, im Bett zu bleiben.

Um acht Uhr machte sich Casanova auf, um nachzusehen, warum sein Frühstück eine Stunde in Verzug war. Sanft leckte er über Oma Olgas Hand, um die vermeintliche Schläferin zu wecken.
„Lass es gut sein, Casi! Spar dir deinen Speichel. Es gibt hier nichts mehr zu fressen, heute nicht und morgen nicht. Du bist jetzt alt genug, um selbst für dich zu sorgen und ich bin zu müde, um aufzustehen. Es kommt der Tag, da hat man einfach keine Lust mehr. Du wirst das schon noch merken, wenn du in mein Alter kommst.“

Nun hätte Casanova sagen können, dass auch er nicht mehr jung sei, aber was mache das, solange das Leben noch Spaß mache und das mache es immer, wenn eine Hündin läufig sei und daran mangele es gottlob nie.
Und überdies habe er nicht gelernt, Kaninchen zu jagen und wolle es in seinem Alter auch nicht mehr lernen. Oma Olga kenne das ja. Die Arthritis quäle auch ihn.

So sehr Casanova seinen geübten Hundeblick zum Einsatz brachte, sogar mit der Pfote nachhalf, Oma Olga blieb stur.
„Troll dich, Casi, oder nimmst du etwa eine 77- Jährige nicht beim Wort?!“

Da Casanova das Problem offensichtlich nicht allein schultern konnte, ging er zu Rasputin, um ihn in die neue Lage einzuweihen.
Dieser flatterte ganz aufgeregt durch das Zimmer. Die Vorstellung, er könne seine Familie erneut verlieren, löste wahre Panikattacken bei ihm aus. Er verirrte sich in Oma Olgas Schlafzimmer, dessen Zutritt (pardon Zuflug) ihm strengstens untersagt war.
Oma Olga reagierte entsprechend übellaunig.

„Du hast mir gerade noch gefehlt, Putin! Spar dir irgendwelche Überredungskünste! Du bist ein armer Vogel, ich weiß. Du hast jetzt Casi als deinen großen Beschützer. Ich habe gestern Fenster und Tür offen stehen lassen. Ihr beide seid also frei. Seht es auch mal positiv!
Und nun lasst mich endlich allein! Trollt euch! Ihr könnt meinen Entschluss nicht ändern.“

Die beiden machten sich tatsächlich auf den Weg. Allerdings schnüffelte Casanova nach der Fährte zu Tanjas und Tatjanas Grundschule, denn so schnell wollten sie nicht aufgeben. Oma Olga mochte ja stur sein. Sie waren es auch. Wer gibt schon gerne freie Kost und Logis auf?
Leider wurde ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt, denn die Zwillinge hatten bis zur sechsten Stunde Unterricht.


In der Zwischenzeit braute sich über Oma Olgas Hütte etwas zusammen. Es war ein Sommergewitter, welches das Ende der Welt anzukündigen schien.
Der Himmel färbte sich pechschwarz. Nach einem stürmischen Auftakt folgte trügerische Stille, bis Blitze am Himmel zuckten und ohrenbetäubendes Krachen folgte.

Ob ich feuer- oder erdbestattet werden will, darüber habe ich mir bisher keine Gedanken gemacht, dachte Olga, und eigentlich ist es egal, wenn man erst mal tot ist. Nun hat das da oben jemand offensichtlich für mich entschieden.
Trotz des ohrenbetäubenden Naturspektakels nahm sie deutlich eine Stimme wahr.

„Olga, was glaubst du, wer du bist? Du meinst, über Leben und Tod entscheiden zu können.
Du solltest es besser wissen. Deine Stunde ist noch nicht gekommen. Nimm dich zusammen und stehe endlich auf!“
„Ich bin 77 Jahre alt und habe keine Lust mehr“, maulte Oma Olga, die, wie gesagt, sehr stur sein konnte.
„Es gibt Hundertjährige, die sind aus dem Fenster gesprungen, um noch ein paar Abenteuer zu erleben. Also, komme mir nicht mit so läppischen Zahlen.
Steh auf oder ich mache dir Feuer unter dem Hintern!“, drohte der Donnergott.
So schnell ließ sich Olga nicht einschüchtern. Jetzt war vielmehr eine günstige Gelegenheit, mit dem Donnergott noch etwas zu verhandeln.

„Mach mich 30 Jahre jünger und ich stehe auf!“, forderte sie und hoffte, dass sie damit ihre Arthritis los wäre, ja vielleicht sogar wieder Chancen bei einem Lover hätte.
„Du kannst die Zeit weder zurückdrehen, noch anhalten!“, grollte der Donnergott.
„Aber du vielleicht“, schmeichelte sie ihm, als urplötzlich ein Blitz in die Wanduhr fuhr und sie augenblicklich in Brand setzte.
„Also, was ist, Olga? Ich meine es ernst!“
„Ich auch“, hätte sie antworten wollen. Doch die Flammen verschlangen gierig ihr schönes Erbstück und hielten bereits nach weiteren Opfern Ausschau.

Da hatte sie auf einmal genug, sprang für ihr Alter recht behende aus dem Bett, um Eimer mit Wasser zu holen.
„Geht doch“, hörte sie den Donnergott noch hinter ihrem Rücken mrmeln.

Oma Olga erhielt ein zweites Mal himmlische Unterstützung an diesem Tag, denn alsbald prasselte Regen herab durch die, von ihr noch nicht entdeckte, undichte Stelle im Dach. Der Brand wurde zwar gelöscht, aber auf dem Boden bildeten sich unschöne Pfützen. Die Eimer kamen somit anders zum Einsatz, als ursprünglich geplant.

Als es gegen 14 Uhr an die Haustür klopfte, da schlug den Besuchern- es waren natürlich die Zwillinge, sowie Casi und Putin- ein wunderbarer Brandgeruch entgegen.

„Hmm, leckere Bratwürstchen!“, jubelten die Zwillinge.
„Hmm, lecker Rindersteak!“, dachte Casi.
Putin freute sich über geröstete Regenwürmer.

„So, meine Lieben, zur Feier des Tages erhebe ich mein Glas.“
Sie hatte ihres mit Rotwein gefüllt. Die Zwillinge bekamen Johannisbeersaft. Casi und Putin waren mit Wasser zufrieden.
„Auf meine Auferstehung!“
„Ist das nicht immer zu Ostern?“, fragte die schlaue Tanja.
„Nö, Auferstehung kann einen jeden Tag treffen. Wer kennt schon genau den Tag und die Stunde?“, zwinkerte Oma Olga Tatjana zu.






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Letzte Aktualisierung: 03.09.2013 - 20.21 Uhr
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