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Auferstehung | September 2013

Dankbarkeit
von Christina Stöger

Diese Schmerzen, diese schrecklichen Schmerzen! Überall ... mein Körper krümmt sich vor Schmerzen! Es brennt, es zieht ... es tut höllisch weh und ich glaube zu sterben! Jetzt! Hier! In diesem Moment.
Die Erinnerung an den schlimmsten Tag meines Lebens trifft mich wie ein Tsunami. Ich kann mich nicht dagegen wehren. Wie ein kleines Boot im weiten Ozean werde ich von den Wellen getragen, umspült, herumgewirbelt. Die Vergangenheit hat sich in meine Seele gebrannt.
Die Erinnerungen kommen nicht mehr so oft wie noch vor Jahren, aber vergessen werde ich sie nie. Die Auslöser sind ganz unterschiedlich. Mal ist es die Sirene eines Krankenwagens, mal ein Rettungshubschrauber, der über meine Wohnung fliegt und auf dem gekennzeichneten Platz des nahen Krankenhauses landet, oder einfach nur der dumpfe Schmerz meiner Narbe.

Ich sitze mit einem meiner beiden Söhne beim Arzt im Wartezimmer. Wie immer dauert es ewig, obwohl ich einen Termin habe. Das Zimmer ist voll. Einige Patienten sitzen auf den bereit gestellten Plastikstühlen und starren Löcher in die Luft, andere blättern in den bunten Zeitschriften, die auf dem Tisch aufgebaut sind. Mein Sohn spielt friedlich mit den Bauklötzen in der Kinderecke und ich muss lächeln, wenn ich ihn betrachte. Mein kleiner Engel. Dass ich überhaupt hier sitze und noch lebe, grenzt an ein Wunder. Meine Gedanken fliegen durch Raum und Zeit und ich sehe mich in meinem Wohnzimmer auf dem Boden liegen. Alles ist so nah, so realistisch, dass ich es fühlen, spüren ... empfinden kann.

Diese schrecklichen Schmerzen ziehen von meinem Magen in den Rücken und rauben mir den Atem. Ich kann mich kaum noch bewegen, liege reglos auf dem Boden wie ein Embryo. Ich brauche Hilfe! Ich brauche einen Arzt. Sonst werde ich hier sterben. Meine Gedanken drehen sich nur darum. Ich muss das Telefon erreichen. Mühsam robbe ich mich Stück für Stück über den Boden, ziehe an der Schnur des Apparates und er fällt scheppernd zu Boden. Die Wahlwiederholung. Ich drücke die Taste. Clemens. Ich muss Clemens erreichen. Er wird mir helfen.
"Hi Süße! Na, alles klar bei dir?", höre ich seine vertraute Stimme. "Hilf mir ... Ich sterbe ... Arzt ... ", stöhne ich mit letzter Kraft in den Hörer. "Ich komme ... halte durch ... bin gleich da."Er stellt keine Fragen und versteht sofort, dass es sehr ernst ist. Erleichtert lasse ich den Hörer sinken. Er hat aufgelegt und das gleichmäßige Tuten wirkt beruhigend. Gleich kommt Hilfe. Gleich … Eine wohlige Wärme umfängt mich und die gnädigen Arme der Ohnmacht fangen mich auf.

Das Geräusch der Sirenen dringt wie durch Watte an meine Ohren. Ich spüre die Vibrationen des Krankenwagens, in dem ich mich befinde, und fühle die Atemmaske auf meinem Gesicht. Noch bevor ich richtig zu mir komme, falle ich zurück in den gnädigen Schlaf. Doch er ist mir nicht lange gegönnt. Die Schmerzen sind so schrecklich, dass ich fast wahnsinnig werde. Ich schlage und trete um mich. Warum helfen sie mir nicht? Warum geben sie mir keine Schmerzmittel …? Warum muss ich so leiden? Ich will nicht mehr leiden! Ich will, dass es aufhört! Jetzt sofort. Ich will sterben. Warum soll ich mir das antun? Wozu …?
Plötzlich sehe ich eine Tür. Eine große, schwere Tür aus Eichenholz. Wo bin ich? Die Schmerzen sind noch immer da. Mein Körper windet sich, fleht um Erlösung. Doch ich bin nicht mehr ich. Ist es meine Seele, die sich in der Zwischenwelt befindet? Bin ich endlich tot? Warum fühle ich dann immer noch? Warum sehe ich kein helles, weißes Licht? Ist das nicht so, wenn man stirbt? Das habe ich mal irgendwo gelesen und genau jetzt erinnere ich mich daran. Also bin ich noch nicht tot. Doch wo bin ich? Ich weiß genau, dass ich durch diese Tür muss. Dahinter wird alles besser. Das weiß ich genau. Doch warum macht mir keiner auf? Verdammt? Ich will an diese Tür hämmern, will sie auftreten, will, dass man mir öffnet. "Man! Ich will da rein!", brülle ich voller Verzweiflung. Doch mein Wunsch verhallt ungehört. Wie lange soll ich denn hier stehen? Bis in die Ewigkeit?
Doch plötzlich werde ich ganz ruhig. Ich spüre eine Hand … Hand? … auf meiner Schulter …?
"Nein! Du darfst noch nicht rein." Wer ist das denn jetzt? Ich höre eine dunkle, warme Stimme in meinem Ohr, in meinem Kopf, in meinen Gedanken. Doch ich kann niemanden erkennen. "Doch! Ich will da rein. Mach auf! Sofort!", brülle ich wieder. Muss ich jetzt wirklich mit dieser Stimme diskutieren? Warum kann sie mir nicht helfen? "Nein. Noch nicht. Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Wir haben noch etwas mir dir vor. Deine Aufgabe hast du noch nicht erfüllt. Kehre um. Geh zurück." Die Stimme macht mich fast wahnsinnig. Ist das Gott? Ich glaube nicht an Gott. Ein Engel? Petrus? Der mit der Tür zur Himmelspforte? Egal! Ich will da rein! Bitte!
"Aber ich kann nicht zurück. Ich habe solche Angst vor den Schmerzen. Warum hilft mir denn niemand?" Meine Stimme ist weinerlich und fehlend zugleich. "Wenn du zurück gehst, dann verspreche ich dir, dass du keine Schmerzen mehr haben wirst. Wir werden auf dich aufpassen, über dich wachen. Vertraue mir …".
Aber … ich … will doch nicht … Ich habe noch so viele Fragen. Doch ich kann sie nicht mehr stellen, denn ich merke, dass ich nicht mehr vor der Tür stehe. Alles verschwimmt und ich spüre meinen Körper wieder. Meine Seele ist zurück. Ich öffne langsam die Lider und blinzle den trüben Schleier über meinen Linsen weg. Helles Licht empfängt mich und ich sehe Schläuche, die aus meinem Körper ragen. Ich befinde mich in einem Bett auf der Intensivstation des Krankenhauses - und habe keine Schmerzen. Das erste Mal, seit einer gefühlten Ewigkeit. Die Stimme hat ihr Versprechen gehalten. Die Medikamente, die sie mir verabreicht haben, schlagen endlich an. Ich sehe meine Mutter, die mit Tränen in den Augen und um Jahre gealtert an meinem Bett steht. Sie hat die ganze Zeit über mich und mein Leben gewacht. Die Ärzte hatten mich bereits aufgegeben und vermutet, dass ich die Nacht nicht überleben werde. Doch ich bin wieder da ... auferstanden von den Toten. Eine zweite Chance, ein zweites Leben wurde mir geschenkt und ich habe mir in diesem Moment selber versprochen, sie zu nutzen.

Die Untersuchungen, die in den nächsten Tagen folgten, bestätigten mir, dass ich es gerade noch geschafft hatte. Eine meiner Nieren war geschrumpft und hat auf Grund dessen ein Stresshormon in meinem Körper freigesetzt. Meine inneren Organe waren bereits so angegriffen, dass es an ein Wunder grenzte, dass ich überlebte. Die Frage, warum das Morphium, das sie mir gaben, nicht schon früher Wirkung gezeigt hat, blieb unbeantwortet. Die Stimme hatte gesagt, dass ich noch eine Aufgabe zu erfüllen habe. Doch was ist diese Aufgabe? Woher soll ich wissen, was ich machen muss? Wer sagt mir, wie ich mich verhalten soll?

"Mama, wann sind wir denn dran? Und warum weinst du? Bist du traurig …?" Die Stimme von James reißt mich aus der Vergangenheit und bringt mich in das Hier und Jetzt zurück. Er steht wartend vor mir und legt seine kleinen Händchen in meine. In diesem Moment spüre ich die Tränen auf meinen Wangen und fühle tiefe Dankbarkeit in mir.

Letzte Aktualisierung: 01.09.2013 - 10.24 Uhr
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