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Auferstehung | September 2013

Surfin’ USA
von Jochen Ruscheweyh

Es ist schon erstaunlich, wie leicht ein zerrissenes Kleid, durchnässte Haare und ein verschmierter Lippenstift manche Menschen auf vollkommen falsche Fährten locken können.
Da ich ein von Natur aus skeptischer Mensch bin, hätte ich sie niemals in unser Motelzimmer gelassen; Notlage hin oder her. Schließlich gab es in jedem District einen Sheriff. Aber ich konnte Julian noch nie etwas abschlagen, wenn er mich mit seinem Hundeblick ansah.

„Was sie wohl da draußen gemacht hat, sie haben doch vorhin eine Sturmwarnung für den gesamten Bundesstaat durchgegeben?“, sagte er wohl mehr zu sich selbst als zu mir, während er trockene Handtücher und einen Bademantel heraussuchte.
„Wir werden es schon herausfinden“, beantwortete er sich seine Frage selbst und ging mit den Sachen zu ihr ins Bad.

Als Julian wenige Minuten später wieder heraustrat, ähnelte seine Gesichtsfarbe der eines Anämiekranken. „Ich weiß ja, dass es nicht sein kann, aber ...“, sagte er und begann, an seinen Fingernägeln zu kauen. Das Elixir, das er auftrug, seit wir zu unserem USA-Trip - er nannte ihn Schwuli-Moon - aufgebrochen waren, schien also nicht zu wirken.
„Was meinst du damit?“, fragte ich.
„Das wirst du gleich sehen“, gab er zurück.

Sie sah umwerfend in dem Bademantel aus: frisiert, geschminkt, unschuldig, naiv und doch auf atemberaubende Weise sexy. Ich möchte nicht abstreiten, dass eine gewisse Ähnlichkeit bestand. Trotzdem hätte ich schwören können, dass Julian gerade dabei war, sich in etwas zu verrennen.
Er fächelte sich Luft zu. Ich hasse es, wenn Schwule diese offensichtlich tuntigen Dinge tun.
„Ich war mir nicht sicher“, hauchte er dann, „aber sie hat reagiert, als ich sie mit Norma Jeane angesprochen habe.“
„Ja, und weiter?“, drängte ich, während Norma bzw. Marilyn es sich mit Julians Nagelelixir auf der Couch bequem machte.
„Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass mein Englisch nicht gut genug für eine komplette Psychoanalyse ist, Kai.“

Er ging im Zimmer auf und ab und schien nachzudenken. Immer wenn ich einen Blick zu Norma rüberwarf, lächelte sie mich an und klimperte mit ihren Augendeckeln. Ich war überzeugt, dass uns ebensowenig Norma Jeane Baker alias Marilyn Monroe gegenübersaß, wie ich das Gerücht glaubte, dass Adolf Hitler als 110 Jähriger in einer UFO-Basis 10 Kilometer über Chile lebte und den 4.Weltkrieg vorbereitete. Aber ich musste das Spiel mitspielen, wenn ich eine von Julians Szenen vermeiden wollte.
„Also gut“, sagte er schließlich, „entweder ist sie das perfekteste Double, das ich je gesehen habe, oder wir haben es hier mit so einem parapsychologischen Dingsbums zu tun.“
Julian integrierte jetzt auch seinen linken Daumennagel in seinen oralfixierten Frustabbau. Ich erinnere mich nicht mehr, ob der Ausdruck von seinem oder meinem Therapeuten stammte. Dann sagte er vollkommen pragmatisch: „Parapsychologie hin oder her, was haben wir zu verlieren, wenn wir annehmen, sie ist tatsächlich die wiederauferstandene MM? Ostern stellen wir schließlich auch nicht in Frage, sondern färben Eier, essen Fisch und gehen in die Kirche.“
Ich nickte, wobei ich mir bei Letzterem - nämlich dem besagten Kirchgang - sicher war, dass sich Julian hier etwas schön redete.
„Auch wenn wir nicht definitiv wissen, ob sie die auferstandene Norma Jeane ist, sollten wir sie zum einen darauf vorbereiten, was sich seit den 60ern verändert hat und uns zum anderen eine Tarnung für sie überlegen, wenn wir sie mit raus nehmen. Alles andere wäre unmenschlich“, entgegnete ich in der festen Überzeugung, dass sie außerhalb des Motels einen Fehler machte. Irgendetwas, das sie auch in Julians Augen als Schwindlerin entlarven würde.
„Mit raus?“, entgegnete Julian vollkommen entrüstet.
„Soll sie etwa in diesem Motelzimmer hier verschimmeln?“, fügte ich an.
Julian nahm sich seinen anderen Daumen vor. Einen Moment später sagte er: „In Ordnung. Du den Geschichtsunterricht, ich die Tarnung.“

Also referierte ich über die letzten 50 Jahre Amerikanischer Geschichte aus unserem Clever-Touren-Reiseführer und beobachtete sie dabei genau. Aber sie spielte ihre Rolle wirklich perfekt, das musste ich ihr lassen, gab sich abwechselnd verzweifelt, dann wieder euphorisiert.

Ich bot an, auf dem Fußboden zu schlafen, damit sich Julian und Norma das Bett teilen konnten, setzte aber - auch wenn ich es nicht aussprach - voraus, dass Julian ebenfalls verzichtete.
Er tat es nicht und es war schließlich Norma, die darauf hinwies, wir wären doch erwachsene Menschen und mich aufforderte, auch ins Bett zu kommen.
Ich lag also links, Julian in der Mitte und Norma, der falsche Fünfziger, rechts.
Ich wartete die Anstandsviertelstunde, bevor ich anfing, an Julian herumzuspielen. Er stieß mich weg und raunte mir zu, es wäre doch wohl nicht mein Ernst, mit so etwas Profanem wie Masturbation anzufangen, wenn neben uns die größte Schauspielerin aller Zeiten liegen würde und dass ich sie reden lassen müsste, da sie das Sprechdefizit, das ihr früher Tod mit sich gebracht hätte, ausgleichen müsste.
Ich war sicher, dass Julian nicht einmal einem Bruchteil von dem Schwachsinn verstand, den Norma daherplapperte. Denn spätestens als sie erklärte, das Kennedy auch "gay", also schwul, gewesen sei und sein legendärer Satz "Ick bin ein Berliner" das erste verschlüsselte "Coming Out" der Nachkriegszeit dargestellt habe, hätte auch er erkennen müssen, dass uns Norma einen Riesen-Bären aufbinden wollte.
Gegen halb zwei stand ich auf, mixte ihr einen Drink und erklärte, jetzt dringend schlafen zu müssen, wenn wir am nächsten Tag eine erfolgreiche Tarnung auf die Beine stellen wollten. Sie seufzte, Julian und ich wären ganz erstaunliche Menschen und dass sie wünschte, sie hätte uns schon vor jener verhängnisvollen Pillen-Nacht kennengelernt und dass dann bestimmt alles anders gekommen wäre.

Julian musste es sich anders überlegt haben, zumindest hatte er keine Einwände mehr, als ich meine Lippen über seinen Penis gleiten ließ, während die ersten Sonnenstrahlen durch den violetten Vorhang in unser Zimmer fielen. Rechts neben mir hörte ich Normas ruhige Atemzüge, während Julian kam. Aber anstatt es mir ebenfalls anständig zu besorgen, wie er es sonst immer tat, wenn er fertig war, sagte er nur: „Grunge ist die Lösung!“ Ich stand also definitiv nicht im Zentrum seiner Überlegungen.

Als ich etwas später mit Coffee und Pan Cakes to go vom Drive In zurückkehrte, ähnelte die Person, die sich auf der Couch in zerrissenen Jeans und mit betont nachlässig aufgetragenem Lippenstift lümmelte, in der Tat eher einer rückfallgefährdeten Courney Love als der erotischsten Schauspielerin der Welt. Das hatte Julian einwandfrei hinbekommen.
Ich setzte mich zu ihr und sagte: „Looks like as if we should have a tiny little trip after breakfast, Norma!“

Sie quiekte die ganze Fahrt im Chevrolet über wie ein Teenager bei der elektronischen Werbung neben den Freeways, dem neuen McRib und vor allem bei Bubble Tea und Ben&Jerrys Eiscreme.
Gegen Abend parkten wir an einer besonders schönen Stelle am Mullholland Drive. Aus Spaß erklärte ich Norma, dass ich fände, dass die Lichter des nächtlichen Hollywood glitzerten wie die Diamanten, die sie in jenem Song als eines Mädchens beste Freunde besungen hätte.
Daraufhin lehnte sie kurz ihren Kopf gegen meine Schulter.
Ich hatte Schwierigkeiten, ihre Reaktion einzuschätzen.

Ein paar Tage später war ich mir sicher, dass Norma erkannt hatte, wie schlecht es um Julians Englisch bestellt war. Und sie schien es zu genießen, ihn außen vor zu lassen. Anders konnte ich mir ihre leicht frivolen Andeutungen in meine Richtung nicht erklären.
Die neue Situation war mir insofern nicht unangenehm, als dass ich davon ausging, dass Julian Normas Verhalten durchschauen und mich auffordern würde, sie an die frische Luft zu setzen.

Er tat es nicht.
Die Erklärung dafür erhielt ich einige Nachmittage später, als ich auf dem Weg zum Drive In wendete und noch einmal zu unserem Motelzimmer zurückkehrte, weil ich mein Portemonnaie vergessen hatte. Durch das Vorderfenster sah ich, wie Norma sich auf Julian pfählte und ihr Becken wie eine indische Tempeltänzerin kreisen ließ.

Kraftlos lehnte ich mich auf dem Parkplatz an unseren Mietwagen. Ein übergewichtiger Mexikaner gesellte sich zu mir, stellte sich als Pedro vor und bot mir die Lösung für jeglichen Trouble in whole fuckin america an. Ich schlug ein und teilte mir sein so angepriesenes Sechserpack Budweiser mit ihm auf der Ladefläche seines PickUps.
Wir sprachen wenig und so wie Männer eben reden: oberflächlich und unverbindlich. Bis er mich plötzlich in die Seite stieß und sagte, dass er im Bilde sei und entweder ginge ich jetzt in dieses verfickte Motelzimmer und holte ihm ausreichend Cash heraus oder morgen wüsste die ganze Nation, wen wir da drinnen gefangen hielten. Und auch wenn Courtney Love white trash wäre, so würde sich sicherlich der örtliche Sheriff dafür interessieren, dass wir einen Promi gekidnappt hätten und für Nazi-Sex-Spiele missbrauchten.

„Ich hab versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, Julian, aber es war zwecklos. Er wusste Bescheid und wollte uns erpressen“, stöhnte ich, als ich den blutüberströmten Pedro in unser Bad schleppte. Aus seinem Brustraum ragte der abgebrochene Budweiser-Flaschenhals heraus, den ich dort versenkt hatte.
Irgendetwas in Normas Blick veränderte sich. Dann schrie sie mich an, was ich fuckin idiot getan hätte.
„Kai saved our lifes, all an together“, erklärte Julian in seinem miserablen Englisch.
„He killed that fat buddy!“, entrüstete sich Norma, und dass er dringend die Police rufen müsste, damit diese mich einsperren und todesbestrafen könnte.
Julian sah mich an, dann Norma, dann wieder mich und sagte: „Frag sie, ob sie zu Ostern Eier färbt.“


Einige Tage später gerieten Julian und ich in eine Polizeikontrolle südlich von El Paso. Was wir im Kofferraum unseres Chevys hätten. Die Officers lachten und ließen uns passieren, als wir erklärten: Die Leiche von Norma Jean Baker und ihrem toten mexikanischen Bodyguard.
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Letzte Aktualisierung: 09.09.2013 - 07.51 Uhr
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