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Auferstehung | September 2013

Du bist verrückt, mein Kind
von Glädja Skriva

für Lydia


15. Dezember 2008
Ich sitze heute das letzte Mal in der Gruppenrunde auf Station 1, Haus Buche. In wenigen Stunden holt mich Tom ab. Was soll ich hier zum Abschied sagen? Die Worte fallen mir schwer. Ich schaue hinaus zum Fenster. Die ersten Schneeflocken fallen sachte auf die Tannen des wunderschönen Klinikparks, der so friedlich daliegt. Friedlich. Und zuhause? Was wird mich erwarten? Werde ich es schaffen? Die Hektik, die alten Muster, die Ablehnung, weil ich in der Psychiatrie war.
Auf meinem Schoß spüre ich den festen Einband des Bilderbuches, das mir gestern Schwester Elisabeth zum Abschied in der Stadt gekauft hat. Es handelt von Frederic, der kleinen Maus, die das Jahr über viele bunte Farben und gute Worte sammelt, um den kommenden Winter zu überstehen. Ich halte das Bilderbuch hoch, zeige es in die Runde und sehe dabei in die Gesichter von Schwester Elisabeth und Anna. Da weiß ich, dass ich diesen Winter überstehen werde, mit den bunten Farben, die sie mir geschenkt haben.

3. Dezember 2008
Es ist Adventszeit. Anna huscht in mein Zimmer, um sich meine gebastelten Strohsterne anzusehen. Eigentlich sind gegenseitige Besuche auf den Zimmern strengstens verboten. Aber in der Vorweihnachtszeit wird Milde geübt.
Annas Blick fällt auf das Wandbild des Hauses. Ein schlichter Druck eines Bibelverses:
„Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn; Er wird’s wohl machen.“
Ich erzähle Anna: „Weißt du, das ist schon ein komischer Zufall, dass genau dieser Spruch in meinem Zimmer hängt. Er ist eigentlich unser Hochzeitsspruch. Ich hatte ihn längst vergessen, bis, ja, bis ich hier wieder auf ihn gestoßen bin. Damals - bei unserer Trauung – haben wir das Lied von Paul Gerhardt dazu gesungen. Kennst du einige Strofen davon? Ich bringe sie einfach nicht mehr zusammen. Anna nickt und beginnt ohne zu zögern:
„Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt ...
Hoff, o du arme Seele, hoff und sei unverzagt, Gott wird dich aus der Höhle, da dich der Kummer plagt, mit großen Gnaden rücken, erwarte nur die Zeit, so wirst du schon erblicken die Sonn der ersten Zeit.
Auf, auf gib deinem Schmerze und Sorgen gute Nacht, lass fahren, was das Herze betrübt und traurig macht ...“
Die Schmerzen ... Anna spricht weiter, mitten in meine Gedanken hinein, die wissen, welche ihr der eigene Vater angetan hat. Mein Blick fällt auf ihre runzligen, zittrigen Hände, die sich auf dem Hof immer noch schinden müssen, selbst jetzt im Alter. Ein Leben, ungelebt. Still, gottesfürchtig. Eingeprügelt.
Da muss ich sie einfach in den Arm nehmen. Ich, die ich seit Monaten niemanden mehr an mich herangelassen und sogar die Liebkosungen der Kinder nicht mehr ertragen habe. Wir halten uns und weinen, weinen.

17. November 2008
Manou kam heute als neue Patientin zu uns auf Station. Wir basteln in der vormittäglichen Gruppenstunde. Manou versteht es, wunderschöne Fensterbilder zu zaubern. Eine Mitpatientin leiht ihr einen Cutter, ein kleines Messer, womit sie die Kurven auf dem Pappkarton noch kunstvoller ausschneiden kann. Anna bemerkt es wohl als Erste von uns, dass Manou plötzlich leer vor sich hinstarrt und der Cutter sich immer mehr ihrem Puls nähert.
Dann geht alles sehr schnell. Manou sitzt im Stationszimmer, die Tür wird leise hinter ihr geschlossen. Wir können keinen Blick hineinwerfen, auch nicht, als der Arzt mit einem großen Alukoffer das Dienstzimmer betritt. Kein einziger Laut dringt nach draußen. Keine Stimmen. Kein Jammern. Kein Schreien. Alles ist gespenstisch still, wie in einem Albtraum. Was machen sie mit ihr? In uns steigt wieder die Angst auf. Die Angst vor dem Ausrasten, vor der geschlossenen Abteilung, vor dem Ausgeliefertsein an das Personal. Mir wird schwarz vor Augen.

3. November 2008
Heute ist Marcos Entlasstag. Noch im Morgengrauen werden wir von einem laut aufheulenden Motor und hämmernder Autoradiomusik aus dem Schlaf gerissen. Kein Tschüss. Keine Umarmung. Keine rührseligen guten Wünsche für die Zukunft. Fort ist er. „Mal hier, mal dort“, wie er immer sagte. Immer auf der Flucht, vor sich und den Erinnerungen. Brennendes Kriegsland.
Die ersten Patienten stolpern noch verschlafen aus ihren Zimmern. Ihre Beine verheddern sich in weißen Papierknäueln, über die sie schimpfend stolpern. Ich bücke mich und hebe fünf Tempotaschentücher auf, die vor meiner Zimmertür liegen. Marco hat sie hingelegt, jedem zum Abschied. Ich verstehe und gehe rasch zum Fenster, winke ihm nach, aber er ist nur noch als kleiner Punkt am Horizont zu sehen.

10. Oktober 2008
„Schwester Elisabeth, willst du wirklich mit mir backen?“ In den letzten Wochen vor ihrer Überweisung hierher war es Schwester Elisabeth nicht mehr möglich gewesen, in der Großküche ihrer Diakonissenschwesternschaft zu arbeiten. Sie verkraftete längst nicht mehr den Zeitdruck, den Lärm, die Hektik. Aber jetzt meint sie zu mir: „Du, ich mag die Stille, wenn nur wir zwei hier in der Küche werkeln.“ Eigentlich ist es den Patienten untersagt die Stationsküche für sich zu nutzen, wegen der Selbstverletzungsgefahr. Doch heute gibt es eine Ausnahmeregelung für uns. „Hast du eine Idee, was wir backen können, Elisabeth?“ Ohne zu zögern greift sie zur getupften Schürze, krempelt die Ärmel hoch und verschwindet in einer Mehlwolke. Als gäbe es nichts anderes zu tun in einer psychiatrischen Einrichtung. „Käsegebäck“. Ihre Augen strahlen. Das erste Mal, seit ich sie kenne. Bald zieht ein feiner Blätterteigduft über die Station. Nach und nach strecken die Patienten ihre Köpfe aus den Zimmern.
Es wird zur guten Gewohnheit. In den nächsten Wochen backen wir, die wir keinen Besuch bekommen, an „unserem Tag“ immer für Mitpatienten, die über das Wochenende nach Hause dürfen und sonntags auf die Station zurückkehren. Im Gruppenraum ist ein Sparschwein aufgestellt, in das jeder einen kleinen, freiwilligen Beitrag für die Leckereien einwirft: „Willkommen wieder zuhause“.

15. September 2008
Elisabeth erhebt sich mit schweren Beinen vom Frühstückstisch. Plötzlich spricht sie eine Frau mittleren Alters an, mit wirr herabhängenden, grauen Haaren und einem scharfen Zug um den Mund. Sie hält Schwester Elisabeth am Ärmel fest und geifert: „Das können die doch nicht mit mir machen. Mich an einen Tisch mit lauter Bekloppten setzen. Ich will raus hier. Sofort! Ich halte das nicht mehr aus!“ Mit ihren Fäusten hämmert sie auf Elisabeth ein. Die Stimme schrill. Immer lauter, geifernder. Ich sehe nur, wie sich Elisabeths Mund kaum bewegt und sie erschrocken zurückweicht. Die Frau wird immer drängender: „Herrgott nochmal, sagen Sie doch endlich was! Sie sind hier doch Schwester.“ Elisabeth höre ich nur flüstern, ganz leise: „Aber ich bin doch Patientin.“ Die Frau lacht hysterisch auf: „Der eine denkt, er ist Napoleon; die andere, sie wäre eine Heilige. Pah!“ Und sie spuckt und schiebt nach: „Eine richtige Schwester käme nie in die Klapse. Denen passiert so etwas nämlich nicht!“
Elisabeth wirft die Hände vors Gesicht und rennt hinaus; unter dem schallenden Gelächter der Frau.

8. September 2008
Tom hat mich hingefahren, in die Psychiatrie. Schnell hat er sich von mir verabschiedet, mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange. So, als wäre er froh, endlich der Verantwortung für mich entledigt zu sein, an der er in den letzten Wochen so schwer zu tragen hatte.
Minuten später sitze ich beim Mittagessen in einem riesigen Speisesaal. Dennoch ist nur leises Stimmengemurmel zu vernehmen; auch an meinem Tisch, an dem ich die nächsten Monate sitzen werde. Zaghaft halte ich meine Hand in die Runde, um mich vorzustellen: Einem jungen Mann mit blassem Gesicht und Augen mit dunklen Ringen, die in die Ferne starren. Aus meiner Verunsicherung reißt mich eine ältere Frau: „Das wird schon wieder“, versucht sie mich aufzumuntern. „Der braucht noch ein bisschen, der ist eben erst angekommen. Übrigens, Marco heißt er.“ Etwas beruhigter nehme ich ihr die freundlich hingehaltene Salatschüssel ab. „Ich bin schon länger hier, genauso wie Schwester Elisabeth, aber die ist immer müde.“ Sie deutet auf meine Nachbarin und ich entdecke neben mir einen frisch gestärkten Schwesternhaubenknoten, der sachte auf die Brust gesunken ist. Anna, die mir inzwischen ebenfalls ihren Namen genannt hat, scheint recht gehabt zu haben. Und damit ist unsere Runde komplett.

2. September 2008
Draußen ist es heiß, sehr heiß. Mir rinnt der Schweiß in feinen Rinnsalen von der Stirn. Ich fühle mich schwach, so, als würde ich auseinanderfließen. Mein Körper zittert. Mein Herz hat ein Eigenleben entwickelt. Es rast davon, weit über den Anschlag hinaus. Ich krümme mich auf dem Boden neben meinem Bett. Nein, es ist nicht die Hitze. Es ist diese unerklärliche Angst, die mich seit einigen Monaten immer wieder überfällt. Sie reißt ihren großen, schwarzen Schlund auf und verschlingt mich, bis alles in mir dunkel wird. Ich kann nicht mehr das Haus verlassen, nicht mehr meine Kinder versorgen, noch nicht einmal mehr alleine bleiben. Ich kann nur noch im Bett liegen und weinen, obwohl ich es nicht will.

15. Dezember 2008
Auf meinem Schoß spüre ich den festen Einband des Bilderbuches, das mir gestern Schwester Elisabeth zum Abschied in der Stadt gekauft hat. Es handelt von Frederic, der kleinen Maus, die das Jahr über viele bunte Farben und gute Worte sammelt, um den kommenden Winter zu überstehen. Ich halte das Bilderbuch hoch, zeige es in die Runde und sehe dabei in die Gesichter von Schwester Elisabeth und Anna. Da weiß ich, dass ich diesen Winter überstehen werde, mit den bunten Farben, die sie mir geschenkt haben.
Dank sei Gott dafür.



© P.S./Glädja Skriva/September 2013/Endversion

Letzte Aktualisierung: 10.09.2013 - 08.45 Uhr
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