Diese Seite jetzt drucken!

Auferstehung | September 2013

Der zweite Geburtstag
von Elmar Aweiawa

Sohn

Sechshundert Höhenmeter sind nicht allzu viel. Doch die Strecke ist extrem schwierig. Führt mich bis an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit. Aber genau so will ich es.

Eine Sicherung abklemmen, weiter oben neu einhaken, die bleischweren Füße hochwuchten, die zweite Sicherung lösen und nachziehen. Eintönig, wenn ich es so aufschreibe, doch welche Freude bereitet es, den Körper zu spüren, alle Kraft für das Ziel aufzuwenden, dort oben anzukommen. Es zu schaffen, den inneren Schweinehund zu überwinden und am Ende mit brennenden Muskeln und bebendem Herzen ins Tal zu schauen. Zurückzublicken auf die fast senkrechte Strecke, die ich überwunden habe.

Es sind nur etwa vier Stunden, in denen ich bis ans äußerste Limit gehen muss. Dann ist das Ziel erreicht. Anschließend kann ich relaxen und etwas anderes anfangen.

Eine überschaubare Angelegenheit also. Das Ende ist schon in Sicht. Ich brauche das, unbedingt, dass das Ende in Sicht ist, dass ich weiß, wann etwas anderes kommt. Immer das Gleiche, ohne dass ich selbst etwas daran ändern könnte, hab ich lang genug gehabt. Warten ist absolut nicht meine Stärke, war es nie und ist es heute weniger denn je.

Ich spüre jeden Muskel - es gibt keine andere Sportart, bei der man seinen Körper so spürt, wie beim Klettern. Und wo man derart auf dessen reibungsloses Funktionieren angewiesen ist. Wo die perfekte Koordination von Geist und Körper dem Überleben dient. Bei jedem gewonnenen Höhenmeter fühle ich, dass ich lebe. Dass das Leben unendlich schön ist. Und wertvoll.


******

Vater

Wieder einmal saß ich im Zug.

Wie so oft in letzter Zeit. Obwohl mir die Fahrerei mächtig auf die Nerven ging, war ich froh über die Erlaubnis meines Arbeitgebers, drei Tage in der Woche im Homeoffice von meinem neuen, vorübergehenden Domizil aus zu arbeiten. So musste ich nur montags in die Firma fahren und konnte zu Hause übernachten. Dienstagabends fuhr ich nach einem langen Arbeitstag wieder in das kleine Städtchen bei Hannover, in dem meine Frau auf mich wartete.

Seit nunmehr sieben Wochen lebten wir hier in einem Zimmer. Inzwischen waren die Vermieter Freunde geworden. Sie verlangten nur einen Spottpreis. Und auch das nur, weil wir darauf bestanden, etwas zu bezahlen. Sie hatten, ohne uns zu kennen, spontan reagiert, als sie von unserer Notlage erfuhren. Wir brauchten dringend eine Unterkunft für unbestimmte Zeit, doch egal, wen wir darauf ansprachen, niemand war bereit gewesen, uns aufzunehmen. Bis wir diese lieben Menschen trafen.
Wir wussten einfach nicht, wie lange es dauern würde, bis unser Sohn ein neues Herz bekommen konnte. Die Transplantationsklinik konnte naturgemäß keine Auskunft geben, alles war ungewiss, wir wussten nicht einmal, ob es für ihn eine Überlebenschance gab, ob wir ihn wieder mit nach Hause nehmen könnten.

Meine Frau hatte unbezahlten Urlaub genommen, sodass sie sich jederzeit ohne Unterbrechung um Jason kümmern konnte.
Er war kein Kind mehr, war mit seinen 22 Jahren bereits von zu Hause ausgezogen. Doch seine lebensbedrohende Erkrankung zerstörte die geglückte Abnabelung, warf ihn in seiner Selbstständigkeit zurück. Er konnte sich ja nicht einmal mehr frei im Bett bewegen, musste es ertragen, vollkommen hilflos zu sein, wo er doch dem Leben entgegenstürmen, es bei den Hörnern packen sollte. Er konnte nichts tun, als nur daliegen und warten. Genau wie wir.

Er war so tapfer, nahm die akute Lebensgefahr, in der er schwebte, mit einer Gelassenheit, die ich ihm niemals zugetraut hätte, und die selber aufzubringen mir wohl nicht gelungen wäre. Dabei war ihm vollständig klar, wie es um ihn stand, er hatte sich durch Fragen an die Ärzte und Artikel aus dem Internet alle Informationen besorgt.
Woher nahm er die Kraft, seit Wochen im wahrsten Sinn des Wortes ans Bett gefesselt zu sein? Nicht einmal das Bein, an dem der Herzkatheter in die Vene eingeführt war, durfte er anwinkeln. Hilfloser konnte man nicht sein.

Seit der Einlieferung befand er sich auf der Hochdringlichkeitsliste, denn es bestand kein Zweifel, dass es schnell gehen musste. Sein Herz hatte sich inzwischen auf das doppelte Volumen vergrößert und konnte den Kreislauf nicht mehr alleine aufrechterhalten. Eine Maschine, die über den Katheter angeschlossen wurde, übernahm die Hauptarbeit, und das ständige klackernde Geräusch war uns längst vertraut und sogar lieb geworden. Wir betrachteten es als Garant dafür, dass die Pumpe zuverlässig arbeitete und unseren Sohn am Leben erhielt. Wie nervenaufreibend, wenn sie mal kurz aussetzte. Das war durchaus normal und löste doch Schreck und Panik aus. Wir wussten, dass sein Leben am seidenen Faden hing, denn auch wenn es keinen technischen Defekt gab, konnte es jederzeit zu Ende gehen. Ein sehr hoher Prozentsatz aller Patienten, die auf eine Organspende warteten, starb, bevor ein geeignetes Organ gefunden wurde.

Meine Gedanken waren bei meinen Lieben, während der Zug sich Kassel, der ersten Umsteigestation, näherte. Danach lagen noch weitere Stunden vor mir, in denen ich mich in langsamen Vorortzügen mit endlos vielen Haltestellen dem kleinen Städtchen näherte.

Um immer erreichbar zu sein, hatte ich mir - ein ehemaliger Handygegner - ein solches Gerät zugelegt. Und jetzt bimmelte es zum ersten Mal. Es dauerte eine Weile, bis ich registrierte, dass es meines war, das sich da aufdringlich bemerkbar machte.

„Es ist so weit! Heute Nacht! Haben sie gerade eben mitgeteilt.“ Mehr an der Aufregung und dem schrillen Tonfall ihrer Stimme als an dem Inhalt der Worte meiner Frau erkannte ich, was sie mir mitteilen wollte. Tränen stürzten mir in die Augen und ich war außerstande, etwas zu erwidern.
„Hast du gehört? Bist du noch da?“
„Ja, bin ich.“ Mehr brachte ich nicht zustande. Die Hoffnung und auch die Angst schnürten mir die Kehle zu.
„In wenigen Minuten wird er bereits abgeholt, sie rasieren ihn gerade.“ Diese Fakten brachten mich wieder ein wenig zu mir und ich konnte fragen: „Wann? Und wer?“
„Können sie noch nicht sagen, es gibt gleich zwei Transplantationen, er ist der Zweite. Aber bis dahin bist du sicher schon hier. Tenderich operiert.“
„Kann ich vorher noch mit Jason reden? Am Telefon?“
„Nein, ich werde ihn auch nicht mehr sehen, bevor er wieder in den OP-Saal kommt. Beeil dich, alleine steh ich das nicht durch!“

So lange warteten wir bereits vergeblich, hofften jeden Tag, dass genau diese Nachricht eintraf. Und jetzt war es Realität geworden. Noch nie war mir ein Intercity so extrem langsam vorgekommen. Die Freude stand jetzt im Vordergrund, die Angst war fast verschwunden. Meine Gedanken rasten und ich war so nervös, dass ich nicht sitzen bleiben konnte. Ich hastete durch den Zug, als könnte ich ihn damit beschleunigen. An jeder Haltestelle fluchte ich über die Umständlichkeit der zu- und aussteigenden Fahrgäste.

In dieser Nacht, die nun schon sechs Jahre zurückliegt, wurde unser Sohn zum zweiten Mal geboren, wurde er uns wiedergeschenkt. Und so feiern wir seitdem zwei Mal im Jahr seinen Geburtstag. Und gedenken an diesem Tag des Menschen, der sein Leben gelassen und durch seine Großmut und Bereitschaft zur Organspende einem anderen Menschen ein neues Leben ermöglicht hat.


*****

Sohn


Jetzt sind es nur noch etwa fünfzig Meter, ich kann das Ende der Strecke bereits sehen. Es ist unvergleichlich schön zu klettern, und am besten ist das Ankommen. Ich will immer ankommen! Das ist wichtig. Egal, wie herrlich es unterwegs ist. Nun habe ich das Ziel bereits vor Augen. Ich habe es geschafft, habe mir selbst bewiesen, dass ich lebendig bin, dass das Leben Spaß macht und Höhepunkte für mich bereithält.

Der wichtigste Höhepunkt meines Lebens ist Andrea. Ohne sie wüsste ich nicht, was Liebe wirklich ist. Manchmal umarme ich sie und die Gefühle überwältigen mich. Dann kann ich sie fast nicht mehr loslassen.
Aber Liebe ist nicht alles im Leben, auch wenn ohne sie alles nichts ist. Ich muss mir selbst beweisen, dass ich das hier kann. Dass ich den Berg zu bezwingen vermag. Auch mit fremdem Herzen. Gerade mit fremdem Herzen.

Alles in mir jubiliert, als ich oben stehe. Der Blick in die Weite belohnt mich für die Strapazen unterwegs. Gleich rufe ich Andrea an, denn sie wartet auf den Anruf. Sie kommt mir auf dem Rückweg entgegen und ich freue mich schon auf den Augenblick unserer Umarmung. Das Leben ist schön. Und wieder empfinde ich tiefste Dankbarkeit. Für alles. Tränen steigen mir in die Augen. Verstohlen wische ich sie weg. Muss an dem verdammten Wind hier oben liegen!


© aweiawa, 2013
Version 2

Letzte Aktualisierung: 26.09.2013 - 07.23 Uhr
Dieser Text enthält 8599 Zeichen.


www.schreib-lust.de